Bibliothek im Himalaja
Private Initiative spendet Bücher für Kinder in indischen Bergdörfern
Gaurav ist zehn. Kerzengerade steht er vor seinen Klassenkameraden und liest aus einem Buch. Darin geht es um Kajri Gai, eine Kuh mit großen Ambitionen: Während die anderen Kühe den langen Winter über im Stall dösen, geht Kajri Gai lieber in die Bibliothek und lernt das Alphabet. Den anderen Kindern gefällt die Geschichte. Sie klatschen begeistert, als Gaurav seinen Vortrag beendet hat.
Knapp 30 Schülerinnen und Schüler gehen in die Grundschule von Shitla. Das kleine Dorf liegt auf rund 2000 Metern Höhe im indischen Himalaja-Bundesstaat Uttarakhand - neun Autostunden nordöstlich der Hauptstadt Neu Delhi. Nach Laut Statistik der Regierung können 79,6 Prozent der zehn Millionen Einwohner von Uttarakhand lesen und schreiben. Das ist mehr als im gesamtindischen Durchschnitt.
Dennoch ist der allgemeine Bildungsstand auch in dieser Region relativ niedrig, was nicht zuletzt am Lernumfeld der Kinder liegt. Wie in vielen staatlichen Dorfschulen Indiens, werden auch in Shitla Grundschüler mehrerer Klassenstufen gemeinsam in einem Raum unterrichtet. Vorne die älteren, hinten die Jüngsten. Vor allem für die Kleinen ist das eine große Herausforderung. Kümmert sich die Lehrerin nicht um sie, lässt die Aufmerksamkeit schnell nach. Auch die Ausstattung des Raumes ist einfach.
Einen Unterschied zu anderen Schulen gibt es in Shitla jedoch. Für die Kinder stehen jede Menge Bücher bereit. Gespendet haben sie der Delhier Verleger Arvind Kumar und seine Mitstreiterin Arundhati Dosthale, eine Publizistin und Übersetzerin. »Alles hat mit der Liebe zu den Bergen und zu den Menschen begonnen», sagt Kumar lächelnd. »Bei unseren Besuchen dort waren wir oft in Schulen. Wir haben wunderbare Kindern getroffen, die keinen Zugang zu Büchern haben.«
Vor drei Jahren hätten beide dann die ersten Kinderbücher an eine Grundschule gespendet. »Uns fiel nichts besseres ein, um zu helfen«, erinnert sich Kumar, der seit mehr als vier Jahrzehnten im Buchgeschäft tätig. Inzwischen ist aus der kleinen privaten Initiative eine Stiftung geworden, der A & A Book Trust.
Mit deren Hilfe wurden in den Gebirgsdistrikten Nainital und Almora schon mehr als 130 Grundschulen und Gemeindezentren mit Kinder- und Lehrbücher ausgestattet. Dort können die Kinder in eigens eingerichteten Bücherecken lesen. Sie können die Bücher aber auch für ein paar Tage ausleihen. Das Geld für Bücher und Ausstattung stammt von den beiden Stiftungsgründern und von wohlmeinenden Spendern.
In der Schule von Shitla hängen die Bücher mitten Klassenzimmer - auf Schnüren, die quer durch den Raum gespannt sind. »Wenn die Bücher auf der Schnur hängen, können die Kinder alles gut überblicken und sich ihr Lieblingsbuch aussuchen«, sagt Stiftungsmitarbeiter Ved Prakash. »Liegen die Bücher dagegen auf einem Haufen oder stehen im Regal, fällt vor allem jüngeren Kindern die Auswahl schwer.«
Lalit aus der vierten Klasse ist begeistert. »Es gibt hier Bücher mit Märchen und Gedichten«, berichtet er. »Die kann ich mit nach Hause nehmen und dort mit voller Konzentration lesen«. Auch seine Lehrerin möchte die Bücher der Stiftung nicht mehr missen. »Die Schüler lernen eine Menge aus diesen Büchern«, berichtet Nirmala Ruali. »Zwar bekommen wir für Fächer wie Hindi oder Englisch auch die Lehrbücher der Regierung. Doch die Kinder finden die Bücher aus den Bücherecken viel interessanter.«
Ein paar Fußminuten von der Schule entfernt hat der Book Trust vor ein paar Monaten eine eigene Bibliothek eingerichtet. Der Blick vom Vorhof ist überwältigend. Zum Greifen nah scheinen die schneebedeckten Himalaja-Gipfel. Überragt werden sie vom Nanda Devi, dem mit 7816 Metern zweithöchsten Berg in Indien.
Im Inneren des Raumes stehen über 2000 Bücher in farbengroh gestrichenen Regalen. Zielpublikum sind alle Bewohner von Shitla und von zwei Nachbardörfern. Mehr als 300 Mitglieder stehen schon in der Kartei. Geöffnet ist von 15 bis 18 Uhr. Besonders beliebt seien Romane und Gedichtbände, aber auch Grammatikbücher, berichtet Ved Prakash. Jeden Nachmittag kämen etwa 30 bis 40 Leser, Schüler und Erwachsene. Zweimal im Monat gibt es in anderen Dörfern der Umgebung zudem eine mobile Zweigstelle der Bibliothek, für die Prakash bis zu 150 Bücher auf seinem Moped dorthin bringt.
Nach seiner Aussage sind es oftmals die Kinder, die ihre Eltern an die Bücher und damit ans Lesen heranführen. Die Bäuerin Deepa Nayal ist ein Beispiel dafür. Unweit der Bibliothek pumpen sie und ihre siebenjährige Tochter Manju Wasser aus einem Brunnen. »Manju geht in die Grundschule und sie besucht regelmäßig die Bibliothek«, berichtet die Mutter stolz. »Sie ist so glücklich, wenn sie Bücher mit nach Hause bringt. Oft liest sie mir daraus vor. Manchmal lese ich die Kinderbücher auch selbst.«
Stiftungsgründer Arvind Kumar freut sich über positive Rückmeldungen. Seit Beginn des Projekts habe sich einiges getan, weiß er. »Eltern und Lehrer haben uns berichtet, dass sich die Kinder dank der Bücher besser ausdrücken können, dass sie ihren Verstand gebrauchen, dass sie nicht nur besser lesen und schreiben, sondern auch selbstständig denken.« Doch der Verleger will mehr. Er wünscht sich, dass sich Kinder wie Gaurav, Lalit und Manju ehrgeizige Ziele im Leben setzen. »Viele wollen Polizist oder Lehrerin werden. Neulich hat mir aber ein Mädchen gesagt, dass sie Pilotin werden wolle. Und genau das ist es: Die Kinder sollen träumen und nach dem ganz Großen streben.«
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