Hoffen auf den Heimweh-Faktor
Begrüßungspakete und ein wenig Zuwendung: Wie sächsische Städte um Zuwanderung und Rückkehrer werben
Das freundliche Willkommen wird über dem Hauseingang entboten: »Salve«, steht in geschnitzten Lettern an der reich verzierten Tür des Gründerzeithauses in Görlitz. Auch jenseits des Portals wirken das Haus und die Nachbargebäude einladend: Große Fenster und ausladende Balkone, viel Grün und stille Höfe. Trotzdem hängen in vielen Fenstern die Werbetafeln der Immobilienfirmen: »Zu vermieten!« Wohnungen, in denen in München oder Berlin Interessenten Schlange stehen würden, sind in Deutschlands östlichster Stadt zu haben. Arne Myckert, der Chef des städtischen Wohnungsunternehmens WBG, formuliert die Situation so: »Görlitz wurde einmal für deutlich mehr Einwohner gebaut, als heute hier leben.«
Der sehnsuchtsvolle Blick zurück richtet sich in Görlitz auf die Zeit um 1900. Damals lebten 102 000 Menschen in der Stadt beiderseits der Neiße. Heute zählt ihr westlicher Teil - der östliche gehört als Zgorzelec inzwischen zu Polen - gerade noch 55 000 Einwohner, Tendenz: weiter sinkend. Die Folge: Selbst rund um die Innenstadt, die mit prachtvoll rekonstruierten Häusern aus Renaissance und Barock verzückt, stehen viele Wohnungen leer. Obwohl viele Häuser abgerissen wurden, liegt die Leerstandsquote bei 30 Prozent.
In Görlitz hat man deshalb eine Idee entwickelt, die einiges Aufsehen erregte: Drei städtische Unternehmen - neben der WGB sind das die Stadtwerke und das Verkehrsunternehmen - geben »Begrüßungspakete« an Zuzügler aus. Diese bekommen unter bestimmten Umständen drei Monate Kaltmiete erlassen, können ein Vierteljahr kostenlos mit Bahn und Bus fahren und sparen zudem bei der Stromrechnung. Myckert gibt unumwunden zu, dass es sich um ein Lockangebot handelt: Man wolle »den Fokus auf unsere Stadt lenken«, sagt der Geschäftsführer: »Wir brauchen mehr Görlitzer.«
Einbußen bei Steuern und auch beim Stolz
Die Lausitzstadt ist mit diesem Wunsch längst nicht allein. Überall in Sachsen und Ostdeutschland sinken, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Einwohnerzahlen. Der Niedergang ganzer Industriebranchen und niedrigere Löhne sorgten ab 1990 für einen Exodus; zudem werden viel weniger Kinder geboren, als Menschen sterben. Zwar konnten Städte wie Dresden und Leipzig, Jena oder Potsdam den Rückgang stoppen; auch ihr Wachstum geht jedoch zu Lasten ländlicher Regionen sowie weniger zentraler Kommunen.
Für einst blühende Städte wie Görlitz ist das in mehrerlei Hinsicht fatal. Das ständige Schrumpfen kratzt am Selbstbewusstsein und führt zudem zu politischem Bedeutungsverlust: Einst Mitglied im Oberlausitzer Städtebund, hat Görlitz zuletzt die Eigenständigkeit eingebüßt und wurde einem Landkreis zugeordnet. Zudem erhalten Städte mit sinkenden Einwohnerzahlen weniger Steuern und niedrigere Zuweisungen. Zugleich fällt es immer schwerer, die Infrastruktur - Theater, Abwasserleitungen, ein Straßenbahnnetz - aufrecht zu erhalten. Für die kommunalen Betriebe ist das ein großes wirtschaftliches Problem, sagt Myckert: »Wir können ja nicht umziehen und unser Geld woanders verdienen.«
Viele Städte versuchen deshalb, sich dem Trend entgegen zu stellen und um Zuzügler zu werben. Görlitz hat damit Erfahrungen aus der Geschichte: Um 1900 galt die Stadt unter Berliner Beamten als »Pensionopolis«, als Ort also, an dem man seinen Ruhestand verbringen konnte: im Grünen, aber mit städtischer Infrastruktur, mit moderaten Lebenshaltungskosten, aber ohne gravierenden Verzicht an Lebensqualität.
Ähnlich argumentiert man heute wieder. Während in München inzwischen Mieten jenseits 12 Euro je Quadratmeter verlangt würden, sei es in Görlitz halb so viel, sagt Myckert. Auch deshalb lägen die Lebenshaltungskosten bei 84 Prozent des Durchschnitts. Für den Fall, dass das Preisargument allein nicht zieht, legt man noch ein paar Argumente nach: Görlitz ist beliebter Drehort für Hollywoodfilme; zudem liege es verkehrsgünstig zwischen Dresden und Wroclaw, mithin direkt in der »Mitte Europas«, preist Myckert.
Immerhin: Etwas scheinen die Argumente zu verfangen. Zuletzt zogen binnen Jahresfrist 2318 Menschen in die Stadt. Vielleicht ist das auch ein Ergebnis der Aktion »Probewohnen«, bei der Interessenten für ein paar Tage in einer Wohnung in der Innenstadt leben und deren Flair erfahren können. Sie soll in diesem Frühjahr fortgesetzt werden. Das »Begrüßungspaket« gilt nun als zusätzlicher Anreiz für jene, die nicht nur auf Probe umziehen wollen. Um den rückläufigen Trend umzukehren, reicht das aber noch nicht. Zwar verliert Görlitz heute nicht mehr Jahr für Jahr über 1000 Bewohner wie in den 1990ern. Stabilen Zuwachs aber gibt es bis jetzt ebenso wenig.
Nicht nur in der Lausitz hofft man deshalb verstärkt auf den »Heimwehfaktor«: Menschen, die einst auf der Suche nach Arbeit oder besseren Löhnen weggezogen sind und jetzt zur Rückkehr bereit wären. Manche, hofft der WBG-Chef, merkten vielleicht »am Ende ihres Berufslebens«, dass sie zwar in Baden-Württemberg gutes Geld verdient, sich aber »in der Lausitz wohler gefühlt« hätten. Auf diese Karte setzt auch Andreas Kretschmar, Rathauschef von Oschatz. Vor einem Jahr hat er knapp 1200 Briefe an ehemalige Bürger geschrieben, die der auf halbem Weg zwischen Leipzig und Dresden liegenden Kleinstadt den Rücken gekehrt hatten. Man wolle »mit den ehemaligen Oschatzern in Verbindung bleiben«, hieß es in dem freundlichen Schreiben. Dass es um mehr ging als nur um Kontaktpflege, machte ein buntes Logo im Briefkopf deutlich. Über einem schwungvollen Herz und einem Foto von Rathaus und Stadtkirche prangt dort der Slogan: »O Schatz, komm zurück«.
Gehofft, sagt Kretschmar, wird dabei längst nicht nur auf Ruheständler, sondern auch auf Menschen, die noch arbeiten. Zwar war der Aderlass der 90er Jahren auch in Oschatz vor allem dem Fehlen gut bezahlter Jobs geschuldet, und noch 2008 sorgte die Schließung der örtlichen Filiale des Paketdienstleisters DHL für Wegzug in erheblichen Größenordnungen. Zunehmend aber fehlten jetzt auch hier Fachkräfte, während die Zahl der Schulabsolventen sinkt. Für die ortsansässigen Unternehmen - ein Hersteller von Glasseide, eine Näherei für Betten, ein weltweit tätiger Produzent von Schaltgeräten für die Straßenbeleuchtung - sind das beunruhigende Aussichten. Nicht zuletzt die Betriebe unterstützten daher die »O Schatz«-Kampagne.
Alles bieten für ein Leben mit Kindern
Einen wichtigen Beitrag, das ist dem Rathauschef klar, müssen sie selbst leisten: »Die Vergütung ist deren Angelegenheit.« Gleichwohl sucht die Stadt, die vor 20 Jahren noch 19 000 Einwohner hatte und im nächsten Jahrzehnt auf 13 000 zusteuert, einige Vorzüge in die Waagschale zu werfen. In Oschatz gebe es nicht nur »keinen Stau«, lobt der Oberbürgermeister, sondern auch viel Grün, eine gute Zugverbindung nach Leipzig oder Baugrundstücke für 70 Euro pro Quadratmeter. Ein zugkräftiges Argument dürfte zudem sein, dass es ausreichend Plätze in Krippen, Kitas und Grundschulen gibt. Im Südwesten, gibt Kretschmar zu verstehen, lägen zwar die Stundenlöhne höher. In Oschatz aber könnten in jungen Familien beide Partner zur Arbeit gehen, weil die Kinderbetreuung gut funktioniert: »Hier gibt es alles, was man für ein Leben mit Kindern braucht.«
Kretschmar glaubt, dass die guten Argumente verfangen; nachprüfen kann er es nicht. Zwar höre er etwa bei Klassentreffen aus dem Mund ehemaliger Oschatzer viel Lob für die Stadt, deren Zentrum nicht nur saniert ist, sondern auch mit Geschäften, Arztpraxen und einer Festhalle aufwartet. Auch auf seine Briefe hin gab es freundliche Resonanz: 15 Prozent der Angeschriebenen hätten sich gemeldet, heißt es. Ob von diesen tatsächlich einige an Rückkehr denken und - wenn ja - ob dazu der Brief des OB beiträgt, wird sich kaum herausfinden lassen. »Die Alternative freilich wäre, gar nichts zu tun«, sagt der Rathauschef - oder mit medialem Wirbel groteske Aktionen zu starten wie Wirtschaftsminister Sven Morlok. Der FDP-Politiker lud vor einiger Zeit Pendler auf eine Raststätte an der bayrisch-sächsischen Landesgrenze ein, um ihnen bei einem Stück Eierschecke eine Rückkehr nach Sachsen schmackhaft zu machen. Die Aktion trug ihm Kritik von Gewerkschaften ein, die anmerkten, gut bezahlte Stellen zögen mehr als Kuchen. Daneben erntete der schwäbelnde Minister aber vor allem viel Spott.
Derlei ist über die »O Schatz«-Kampagne bisher ebenso wenig zu hören wie über das Begrüßungspaket in Görlitz. Unklar ist freilich auch, wie erfolgreich die Aktionen sind. Mit Zahlen kann Kretschmar so wenig dienen wie der Chef der WBG. Vermutlich aber sind harte Zahlen auch gar nicht das Ziel der Kampagnen. Vielmehr geht es um ein Gefühl, das einen Hausbesitzer schon vor 100 Jahren das Wort »Salve« in die Haustür schnitzen ließ: »Man soll sich«, sagt Myckert, »hier willkommen fühlen.«
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