»Die Straffreiheit war grenzenlos«
David Morales und Zaira Navas über die Politik der linken Regierung in El Salvador gegen die Gewalt
nd: El Salvador hatte über viele Jahre hinweg einen schlechten Ruf beim Thema Menschenrechte. Hat er sich seit dem Amtsantritt der Regierung von Präsident Mauricio Funes 2009 verbessert?
David Morales: Auf jeden Fall. Erstmals sieht eine Regierung in El Salvador die Einhaltung der Menschenrechte als eine Aufgabe des Staates an. Die rechten Vorgängerregierungen haben die Menschenrechte dagegen gering geschätzt und sich wenig um die Erfüllung der staatlichen Pflichten beim Schutz der Menschrechte gekümmert.
Was macht die neue Regierung denn konkret anders?
Morales: Sie hat zum Beispiel eine Reihe von Institutionen geschaffen, um verschiedene Rechte durchzusetzen. Das Sekretariat für soziale Inklusion soll die sozialen Rechte der armen Bevölkerung verbessern, der Beirat für Kindheit und Jugend erarbeitet eine neue Politik zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. Um die sehr schwierige Situation der vielen Menschen, die El Salvador verlassen, um - häufig illegal - in die USA zu kommen, kümmert sich der Beirat zum Schutz der Migranten. Zum Selbstverständnis des Staates gehört es heute aber auch, die Rechte von Behinderten, Homosexuellen und Transsexuellen zu schützen.
Der Staat betrachtet heute die Anliegen von Opfern von Menschenrechtsverletzungen als legitim und befindet sich im Dialog mit der Zivilgesellschaft. Dies gilt vor allem für die vielen Opfer von Menschenrechtsverletzungen aus den Jahren des Bürgerkriegs.
In El Salvador herrschte seit jeher Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen. Vertreter von staatlichen Institutionen wie Polizei und Armee wurden für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen. Hat sich das geändert?
Morales: Die jahrzehntelange Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen wurde nicht mit dem Friedensabkommen von 1992 beendet. Schuld daran ist die Generalstaatsanwaltschaft, die nicht aktiv wird, um Straftaten zu untersuchen und vor Gericht zu bringen. Das gilt sowohl für die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit als auch für aktuelle Delikte.
Ist bei der Staatsanwaltschaft in den letzten Jahren ein Wandel sichtbar?
Morales: Leider nein. Das gilt für das gesamte Justizsystem. Nach dem Ende des Bürgerkriegs gab es weder eine Justizreform noch dringend notwendige Entlassungen von belastetem Personal. Durch eine Strafrechtsreform vor einigen Jahren wurde die Macht der Generalstaatsanwaltschaft sogar noch ausgeweitet. Wenn sie sich weigert, Ermittlungen einzuleiten, werden auch keine Verfahren eröffnet. Aufgrund der personellen Kontinuität zu früher kommen Menschenrechtsverletzungen nicht vor Gericht. Der Präsident hat keinerlei Einfluss auf die Justiz und kann da nichts ändern.
Straffreiheit hat auch mit der Fähigkeit des Staates zu tun, Verbrechen angemessen zu untersuchen und vor Gericht zu bringen. Und dafür trägt nicht nur die Staatsanwaltschaft die Verantwortung, sondern auch die Polizei.
Gibt es im Polizeisektor Bewegung unter der neuen Regierung?
Navas: Ja. Wenn Verbrechen bisher nicht oder nicht angemessen untersucht wurden, lag dies nur in manchen Fällen an unzureichenden technischen Fähigkeiten der Polizei, oft fehlte ganz einfach die Bereitschaft, diese Fälle aufzuklären. Und genau das macht den Kern von Straffreiheit aus. Die war grenzenlos in El Salvador.
Um die enorme Gewalt zu bekämpfen, aber auch um gegen die Straffreiheit anzugehen, hat die Regierung Funes eine Nationale Politik für Recht, Sicherheit und Zusammenleben erarbeitet, ein absolutes Novum in der 200-jährigen Geschichte des Landes. Die Polizei wurde hinsichtlich der technischen Fähigkeiten zur Verbrechensbekämpfung, ihrer Ausbildung und finanziell deutlich gestärkt.
Um gegen die Gewalt im Land vorzugehen, patrouillieren jedoch die Streitkräfte in den Straßen. Dabei dürfen sie laut Friedensabkommen nur noch zur Landesverteidigung eingesetzt werden.
Navas: Als Menschenrechtler sagen wir ganz klar: Die öffentliche Sicherheit ist keine Aufgabe der Armee. Aber die Bevölkerung will die Armee auf der Straße haben, die Menschen fühlen sich sicherer, wenn Soldaten patrouillieren. Da müssen wir noch einige Überzeugungsarbeit leisten, dass dies eine Aufgabe von zivilen Kräften ist.
Wir müssen aber auch eine bessere Verteilung der Haushaltsmittel erreichen. Die gewalttätigen Jugendbanden sind auch eine Folge der jahrzehntelangen einseitigen Mittelverteilung: Repression statt Sozialarbeit. Über den Haushalt entscheidet das Parlament und das wird von der Rechten kontrolliert. Deswegen hat die Regierung nur einen geringen Spielraum, um mehr Geld für den Sozialbereich auszugeben. Das Problem geht aber über die konkrete Politik hinaus. Zwanzig Jahre rechter Regierungen haben die Bevölkerung darauf gepolt, dass auf Gewalt mit Gewalt geantwortet wird. Um diese Form des Denkens zu beenden, müssen wir viel Aufklärungsarbeit leisten.
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