Orbáns Rache an Verfassungsrichtern
Neuer Feldzug gegen Rechtstaatlichkeit und sozialistische Vergangenheit in Ungarn
Vor gut einem Jahr trat das im Alleingang der Regierungsparteien verabschiedete neue ungarische Grundgesetz in Kraft. Laut Meinungsumfragen hätte die Bevölkerung mit großer Mehrheit gegen die neue Verfassung gestimmt, aber sie wurde nicht gefragt. Jetzt steht bereits zum vierten Mal eine Änderung der noch druckfrischen Konstitution auf der Tagesordnung des Budapester Parlaments.
Was mit der neuen Verfassung seit ihrer Geburtsstunde geschieht, ist eine bitterernste Komödie. Der Text, den Ministerpräsident Viktor Orbán seinerzeit als »in Granit gemeißelt« bezeichnete, wird zur Gelegenheitsgesetzgebung degradiert. Im neuesten Aufzug dieser Komödie geht es um die Bestrafung des ungehorsamen Verfassungsgerichts. Und das Strafpaket ist dick: Es enthält Strafen für Vergangenes und Mittel zur Verhinderung zukünftiger Sünden. Nie wieder soll jemand den hemmungslosen Regierenden in die Quere schießen.
Die geplanten Verfassungsänderungen, die dem Parlament seit vergangenem Freitag vorliegen, sollen zunächst den Handlungsspielraum des Verfassungsgerichtshofs weiter beschneiden. Demnach darf er sich nicht mehr auf seine eigene Rechtsprechung aus der Zeit vor Verkündung des neuen Grundgesetzes beziehen. Gefesselt werden die Richter auch dadurch, dass sie nur mehr jene Bestimmungen prüfen dürfen, für die ein entsprechender Antrag vorliegt, und diese nur in der vom Antragsteller gewünschten Hinsicht. Der Kreis der Antragsberechtigten wurde schon früher eingeschränkt. Individualklagen sind abgeschafft, nur der Staatspräsident, der Ombudsmann oder 25 Prozent der Abgeordneten dürfen Klagen einreichen. Wenn den Verfassungsrichtern zum Beispiel Fragen zur formalen Richtigkeit eines Gesetzes vorgelegt werden, ist eine inhaltliche Prüfung untersagt, die Überprüfung größerer Zusammenhänge gehört damit der Vergangenheit an.
Die vom Verfassungsgericht abgelehnte Bestimmung, wonach der Präsident der Richterkammer und der Oberstaatsanwalt nach Lust und Laune entscheiden können, ob ein Verfahren vom örtlich zuständigen oder von einem anderen Gericht verhandelt wird, kommt wieder. Sie wird nun in die Verfassung geschrieben. Der Richterkammer steht übrigens derzeit die Frau József Szájers vor, der war Hauptautor des neuen Grundgesetzes. Und als Oberstaatsanwalt fungiert ein Vertrauter Orbáns, der sein Amt dank der Verfassung auf Lebenszeit ausüben darf.
Eine Ohrfeige bekommen die Verfassungsrichter auch bezüglich der Familienpolitik. Sie hatten festgestellt, dass der Begriff Familie zu eng definiert ist, wenn er nur die Beziehung zwischen Mann, Frau und Kind erfasst. Nun wird im Grundgesetz geschrieben stehen, dass als Familie lediglich die Ehe zwischen Mann und Frau samt Eltern-Kind-Verhältnis aufzufassen ist. Die Ehe ohne Trauschein wird neuerlich diskriminiert, Homophobie erhält Verfassungsrang.
Das neue Kirchengesetz, wonach allein das Parlament bestimmt, welche Glaubensgemeinschaft Kirchenrang und damit Zugang zu Steuergeldern erhält, hatten die obersten Richter auch gekippt. Das Parlament verabschiedete das unveränderte Gesetz daraufhin einfach noch einmal. Und zur Bekräftigung soll im Grundgesetz stehen, dass eine Glaubensgruppe nur mit »gesellschaftlicher Unterstützung« in den Rang einer Kirche erhoben werden kann.
Eine Bestimmung, wonach Wahlwerbung nur in öffentlich-rechtlichen Medien gesendet werden darf (die Fidesz durch und durch mit eigenen Leuten bestückt hat), hielten die Richter für eine gravierende Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit. Also wird auch diese Regelung in die Verfassung geschrieben.
Verworfen hatte das Verfassungsgericht außerdem die sogenannten Studienverträge. Sie schreiben vor, dass Hochschulabsolventen nach einem staatlich finanzierten Studium doppelt so lange in Ungarn arbeiten müssen, wie sie studiert haben. Es sei denn, sie kaufen sich durch nachträgliche Bezahlung der Studiengebühren frei. Auch diese moderne Bindung an die Scholle wird ins Grundgesetz gehievt, ebenso wie die Einschränkung der universitären Autonomie: In Zukunft wird den staatlichen Hochschulen ihre Wirtschaftsordnung vom Staat vorgeschrieben.
Die Verfassungsrichter hatten erklärt, dass Obdachlosigkeit allein kein Kriminaldelikt sei. Unter dem Vorwand des Schutzes der öffentlichen Ordnung, des Gesundheitswesens und kultureller Werte wird nun im Grundgesetz stehen, dass ein »Aufenthalt im öffentlichen Raum als Form der Lebensführung für rechtswidrig erklärt« werden kann. Obdachlose müssen also mit Strafe dafür rechnen, dass sie sich nicht in einer Wohnung aufhalten.
Schließlich die »Sünden des Kommunismus«, auch sie werden Verfassungstatbestand - eine unverhüllte Drohung gegen die Ungarische Sozialistische Partei. Damit in Einklang steht der Angriff auf die Archive. Eines der bestorganisierten Archive Ungarns wird vom Politikgeschichtlichen Institut PTI geführt. Dort liegen nahezu alle Dokumente der ungarischen Arbeiterbewegung, darunter Schriften aus der Illegalität vor 1945, aber auch alle Dokumente von Jugendorganisationen und Gewerkschaften in staatssozialistischer Zeit. Das Material der Gewerkschaften, unverzichtbare Fundgrube für sozialgeschichtliche Forschungen, ist Eigentum der Gewerkschaftskonföderation und wird vom PTI nur verwaltet. Jetzt will Fidesz alle diese Bestände verstaatlichen, also enteignen, und sich nebenbei das schöne Palais des PTI unter den Nagel reißen. Weil bei Gericht schon Klagen gegen das Verstaatlichungsgesetz vorliegen, soll auch dieses Problem mit einer Verfassungsänderung gelöst werden. Sämtliche Archivalien der »kommunistischen Staatspartei« und der »unter ihrem Einfluss« tätigen Organisationen« werden darin zum »Eigentum des Staates« erklärt. Damit sind sowohl die Integrität dieses Dokumentenbestands als auch der Zugang der Forschung gefährdet.
Die Verfassungsänderungen werden voraussichtlich im März vom Parlament verabschiedet. Wer den neostalinistisch organisierten Fidesz kennt, zweifelt nicht daran, dass Viktor Orbáns Wünsche erfüllt werden. Das soll dann auch gehörig gefeiert werden, an einem neuen, allerdings nicht arbeitsfreien Feiertag: Der 25. April wird zum Tag des Grundgesetzes.
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