Wir kommen alle aus Gogols Mantel

Seehafers Exkursion in die Abgründe der Bibliomanie

  • Klaus Walther
  • Lesedauer: 3 Min.

Natürlich weiß jeder, der sich in dem Metier des Büchersammelns bewegt, wer Magister Johann Georg Tinius war: eine Beispielfigur für die Gefährdungen, die einem da begegnen.

Also, um es nur kurz zu skizzieren: Dieser 1764 in Posena bei Leipzig geborene spätere Pfarrer war wohl doch einer der großen Büchersammler am Ende des 18. Jahrhunderts. Auch wenn der Katalog seiner Sammlung anlässlich der Auktion von 1821 »nur« 16 650 Titel ausweist, so hat er doch selbst in einem Bittgesuch von 40 000 Büchern gesprochen. Das sind Bestände, die man sich erst einmal beschaffen muss. Und Klaus Seehafer, dessen Tinius-Buch in unsere Sammlung eingereiht werden wird, meint, »kein Bibliomane, der eine Bibliothek von mehreren hunderttausend Bänden zusammengebracht hat, kann das eigentlich ohne illegitime Mittel geschafft haben, es sei denn, er ist unglaublich reich«. Ganz sicher hat er damit recht, aber die Beschaffung von Büchern bewegt sich ja oft und bei vielen Sammlern gelegentlich am Rande der Legalität. Wir kommen ja alle ein wenig aus Gogols Mantel oder aus den Wegen des Magister Tinius.

Als ich in den fünfziger Jahren als junger Journalist den Verleger Rowohlt auf der Leipziger Buchmesse interviewte, fragte ich, ob denn auch Bücher von seinem Stand gestohlen würden, und er sagte lächelnden Gesichts: »Jeder Verleger ist stolz, wenn seine Bücher gestohlen werden«. Das mag für Leipzig und zu DDR-Zeiten wohl richtig gewesen sein, ansonsten haben es die Verleger auch gern, wenn man ihre Bücher kauft.

Ich merke, ich schweife ab, das ist wohl eine Wirkung der Lektüre von Seehafers Buch »Magister Tinius. Lebensbild eines Verbrechens aus Büchergier«. Und da sind wir auch bei dem, was Tinius von uns kleineren oder größeren Sammlern unterscheidet. Er wurde ja mit dem Verdacht, mehrere Morde begangen zu haben, eingelocht, verurteilt und über die Zeiten hinweg verdammt - der Bibliomane als Mörder. Klaus Seehafer macht es sich nicht so leicht, wie mancher seiner Vorgänger in der biografischen Darstellung dieses Lebens, die Gerüchte und Indizien unbesehen und unbedacht zu übernehmen. Sein Buch ist meines Erachtens zum ersten Mal der Versuch, die verschiedenen Lesarten dieser Existenz sichtbar zu machen, die Fakten und Legenden zu bedenken, die Psychologie dieses Sammlers zu erkunden.

Dazu gibt es ein gehöriges Maß an Abschweifungen, ohne die ein wirklich gutes Buch nicht auskommt. Seehafer rudert durch die Zeiten und Welten, schreibt über andere Bibliomanen, besucht die Orte der Verbrechen und kommt schließlich zu dem Schluss: »Johann Georg Heinrich Tinius hatte sich nach oben gequält und ward dann jäh gestürzt ... Ob er aber wirklich ein Mörder war, wüsste ich mittlerweile weniger zu sagen als je zuvor.«

Und für den Leser dieses Textes ein Hinweis: Dieses Buch kann man kaufen, es bedarf keines Hammermordes, um es zu bekommen. Aber: Jeder Büchersammler sollte es als Warnschrift in seine Bestände aufnehmen.

Klaus Seehafer. Magister Tinius. Lebensbild eines Verbrechers aus Büchergier. Verlag André Thiele. 307 S., geb., 19,90 €

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