Bruder Baum

Richard Pietraß bringt sich in Zwiesprache mit dem Sein

  • Peter Gosse
  • Lesedauer: 4 Min.

Wo sich Poesie vom prosaischen Nacherzählen bestimmen lasse, »dort sind die Betttücher nicht zerknittert, dort hat die Dichtung nicht genächtigt«, weiß der große Sowjetjude Ossip Mandelstam. Und wer sich in Richard Pietraß' Verse hineinbegibt, darf sich darauf gefasst machen, die Laken ordentlich, will sagen: aufs unordentlichste geknüllt zu sehen.

Aber wie komme ich auf Mandelstam?

Nun, der, während er in einem Güterwaggon in den todbringenden sibirischen Fernen Osten verbracht wird Ende der neunzehndreißiger Jahre, erblickt einen quicklebendigen Stieglitz - in seiner Buntheit und Äugensfrische eine geradezu exorbitant daseinsselige, schier unwirkliche Erscheinung.

Richard nun ist Ossips gedichtgewordener Taumel sofort gegenwärtig, da ein Schildchen vorm Zooladen nahe dem Berliner Zionskirch-Platz ankündigt: »Stieglitze eingetroffen«. Er kauft, und das Bauer hängt daraufhin in seiner »Steinsamkeit« in der Oderberger.

Wie das? Denn was Pietraß' sechzig Gedichte aus beinahe drei Jahrzehnten (1979 - 2006) im vom Jenenser Jens-Fietje Dwars hingebungsvoll edierten, durch Kupferstiche Baldwin Zettls geadelten Band »Wandelstern. Die Naturgedichte« unterbreiten - es ist Demut vor sämtlichem Seienden. Nicht nur, dass R.P. sich unangestrengt in Zwiesprache mit aller Kreatur bringt, vorzugweise den Winzlingen, den Hilflosen, den gewissermaßen Plebeijischen (Fledermaus, Mücke, Mistkäfer) - gar den Baum vermag er, den »lahmenden Klumpfuß«, als Bruder beglaubigt anzusprechen.

Solch geschwisterliches Einvernehmen wird denjenigen nicht verwundern, der Richard hat baden sehen. Als es eine Sammlung sächsischer Liebesgedichte zusammenzustellen galt (ein Ruhmesblatt der Sächsischen Akademie der Künste stellte sich her unter dem schönen Pietraß-Titel »Meine Nackademie«, welches freilich, das Blatt, vom Mainstream-Winde verweht worden ist) - während dies also geschah, ließ sich in einem Beeskower See Richards umlocktes Haupt triften sehen: ohne sonderliche Armbewegungen und demzufolge ohne Aufgabe jener senkrechten Körperhaltung, die - unten an den Zehen - womöglich ein Strömen wahrzunehmen gestattete vom weltfühligen fontaneschen Stechlin-See her.

Kurzum: »Guten Morgen, Bruder Baum«, so grüßt das Gedicht »Vor Tag« frohgemut - um freilich alsbald, bei Tageslicht, der Versehrungen schmerzlich innezuwerden. Pietraß: Angesichts einer gefällten Pappel empfindet er sich selbst als »abgesägt bis zu den Knöcheln«; benommen sieht er unseren heimatlichen »Wandelstern« ins Elend wandeln unterm zivilisatorischen Zugriff. Raum, da ihn Abraum zu füllen fortfährt, droht »Aberraum« (Gedicht »Die Kippe«) zu werden.

Und dennoch sperrt dieser sächsische Wahlberliner also ein lichtblinkendes Zwitscher-Gewitterchen selbstisch in einen, in seinen Käfig? Nun, das Gedicht »Stieglitz« fährt tröstlich so fort:

»Friß, Vogel, aber stirb«

mir nicht

unter meinen Wärterhänden.

Spiegelst du mein Spießgesicht

Werde ich das Spiel beenden

und dich zurück ins Ödland tragen.»«

Ein Natur-Gedicht - was ist das? Sollte es nicht auch die menschliche oder gar menschheitliche Natur einbegreifen? Pietraß' Buch weiß darum. Die krönenden Wortgebilde greifen denn auch nobel in Liebe, in Tod hinaus. Sie sind Allwelt-Bezeugungen, Benedeiung und Klage ineins, unrubrizierbar:

»Im Andrang der Elbe, des Bluts« wildern Zwei herrisch/herrlich ineinander, sind »Jäger, Beute; Flut« (Gedicht »Freiwild«). Und wie das zeitlos winterliche Protokoll »Rochade« je vergessen: Schwäne halten durch unablässiges Rudern ein Stücklein Gewässer eisfrei,

»rochierend vorm Schilf,«

atmend in schwindender Rinne

Gründelnd im Traumkraut der Stille,

im frierenden Spiegelbild.»«

An schließt sich die (Georg Heym sich zuneigende, dessen Ende im Wannsee-Eis erinnernde) Kadenz dieses Gedichts, die verschwebende Innenschau:

»Abend legt sich aufs Ohr:«

eine verwehende Stimme.

Schwäne, entgleitende Sinne,

Striche im dunklen Gefild.»«

Mandelstam, deucht mich, sähe seine oben zitierte Forderung an das Poetische staunenmachend erfüllt.

Übrigens denkt sich Richard den Tod anrührend weiblich: Nicht Charon werde ihn dermaleinst überführen, sondern - Gedicht »Sonneck« - »die Fährfrau stakt«.

Richard Pietraß: Wandelstern. Naturgedichte mit vier Kupferstichen von Baldwin Zettl. Edition Ornament im Quartus Verlag. 88 S., br.,14,90 €.

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