Von Gorbatschow bis Gottlieb Wendehals

Was in Leipzig zählt, ist Publikum

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Interesse am Lesen sei »ungebremst«, sagte Buchmessedirektor Oliver Zille - und diese Tage in Leipzig werden ihn bestätigen: Gedränge in den Messehallen und auf den Gängen dazwischen, so dass man mitunter kaum mehr vorankommt. Besucherströme - und in der Messebuchhandlung klingeln die Kassen, denn mancher ist nun vielleicht doch neugierig geworden zu lesen oder hat die Gelegenheit für eine Autorenwidmung genutzt.

Wenn die Wahrheit in Leipzig auch nicht offensichtlich wird, Insider werden sie kennen: Der Branchenumsatz, in den vergangenen Jahren immer nur leicht oder gar nicht gestiegen, sank 2012 um ein Prozent. Das ist nicht viel im Vergleich zu Einbrüchen anderer Art, die sich auch auf den Buchhandel auswirken mussten. Aber die Beschwörungen einer soliden Lesekultur, wie man sie allenthalben hört, haben eben ihre Kehrseite in der Befürchtung, dass da etwas bröckeln könnte.

Organisatorisches zur Buchmesse

Öffnungszeiten: 14. bis 17. März, 10 bis 18 Uhr
Ort: Messegelände Leipzig, Hallen 2 bis 5, Glashalle und Congress-Center

Eintritt: Tageskarte 12,50 € ermäßigt 10 €
Dauerkarte 29 €
Nachmittagskarte ab 15 Uhr 8 €.
Tageskarte Fachbesucher 10 €

Buchverkauf: In den Messebuchhandlungen, bei Veranstaltungen und am Sonntag ab 15 Uhr bei den Ausstellern
nd-Stand: Halle 5, D 402

 

Die Branche hat sich ihre Probleme ja auch selbst bereitet. Es wird produziert auf »Teufel komm raus«, jeder hofft, sein Geschäft zu machen. Dabei sind 90 000 Neuerscheinungen im Jahr auf dem deutschen Buchmarkt einfach zu viel. Manche Titel werden nur geringe Auflagen erreichen. Insgesamt ist es - wenn man in Bezug auf Geistiges auch nicht gern davon sprechen mag - eine Überproduktionskrise.

In Leipzig sieht man die großartige Fassade: So viele Bücher! Da kann man doch nur staunen. Passionierte Leser möchten am liebsten sofort zugreifen und sich vertiefen. Getreu einem Satz von Ernst Rowohlt: »Wer die Versuchung nicht kennt, ein Buch zu klauen, der verdient auch keine Freiexemplare.« Aber nur wenn sie zahlen, halten die Buchbegeisterten den Laden am Laufen. Kaufkraft und häusliche Lagerkapazität, wer wüsste es nicht, haben freilich ihre Grenzen.

Die Kehrseite des erfreulich großen Buchangebots: In den Lagerhallen nahe der Messe sollen in diesem Jahr 500 000 »Second-Hand-Bücher« unter die Leute gebracht werden, für einen Euro das Stück. Ein Schnäppchenparadies für Leser, in dem Autorinnen, Autoren böse Überraschungen erleben könnten. Und wie viele Bücher werden geschreddert?

Damit möglichst wenig verramscht oder gar makuliert werden muss, tut die Leipziger Buchmesse das Ihre. Eine grandiose Marketingveranstaltung, ganz auf die Aufmerksamkeit des Publikums gerichtet: Von Gorbatschow bis Gottlieb Wendehals - Promis haben Konjunktur, diejenigen, die man aus dem Fernsehen kennt. Außerliterarisches, so möchte man es nennen. Aber mit dem Interessentenkreis für literarische Qualität allein lässt sich so eine Messe eben nicht finanzieren.

Die Bücherwürmer werden auch auf ihre Kosten kommen, zum Beispiel wenn der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen wird und in manchen Lesungen auch. Aber die Erfahrung hat die Veranstalter offensichtlich gelehrt, dass es nicht genügt, guten Texten zu vertrauen. »Wir wollen weg von der typischen Wasserglaslesung«, wird Birgit Peter, Kuratoriumschefin im Leipziger »Haus des Buches«, von dpa zitiert. Der Trend geht zum Event. Das Publikum soll durch ein Live-Erlebnis gelockt werden, wie man es beim Lesen sonst nicht hat. Literatur wird Inszenierung. Im günstigsten Fall kann man sagen, dass da eine eigene Kunstform entsteht.

So sind es eben nicht nur Buchhandlungen und Bibliotheken, die für das Lesefest »Leipzig liest« gesuchte Veranstaltungsorte sind, sondern auch Kneipen, Kinos, Museen, das Landgericht. 2800 Veranstaltungen: Für jeden soll und wird etwas dabei sein, so es Zeit und Kraft erlauben.

Und auch auf der Messe selbst: Man wird nur einen winzigen Bruchteil dessen wahrnehmen können, was geboten wird. Fülle. Manches ist nicht so sehr von Belang, gewiss. Menge um der Menge Willen. Aber wer will ganz sicher sein, was andere interessiert? Das ist das Schöne in dieser Branche, dass es immer wieder Überraschungen gibt. Bestseller lassen sich vorfinanzieren und planen - und haben doch ihr Eigenleben. Es darf auch mal ein Buch ganz nach oben kommen, von dem man es nicht erwartet hat. Folglich können Büchermacher nicht nur kühl Kalkulierende sein. Ohne Begeisterung, die ansteckt, geht nichts in diesem Metier.

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