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Dossiers in militärischer Mission

Geöffnete Panzerschränke: Was Geheimakten über die Auseinandersetzung zwischen Ost und West aussagen

  • Rainer Funke
  • Lesedauer: 8 Min.

Diese 307-seitige Schrift ist von ziemlich unhandlichem Format: 12,5 Zentimeter dick, wiegt 16,5 Kilogramm, misst reichlich 60 Zentimeter im Quadrat. Und ist rot. Was sonst. Sie wurde vor 33 Jahren vom Hauptstab der Nationalen Volksarmee der DDR erstellt und hernach in die Tiefen der Panzerschränke versenkt. Bis in unsere Tage wird die Studie als hochkarätig geheim behandelt. Ein Exemplar lagert unter der Signatur BArch DHV 7/44958 im Militärressort des Bundesarchivs. Das Dossier nennt sich »Militärgeografisches Auskunftsdokument über den Westlichen Kriegsschauplatz« und beinhaltet eine Fülle einstmals sensibler Daten über die Bundeswehr, deren Verbündete, Strukturen und Potenziale in Europa. Insgesamt 50 komplette Ausfertigungen befanden sich in den höchsten Führungsebenen zwischen Berlin/Strausberg, Moskau, Prag und Warschau.

Ein wichtiges Arbeitsmittel nannte der damalige Chef des NVA-Hauptstabes, Generaloberst Fritz Streletz, das in Deutsch und Russisch formulierte Papier in einer Vorbemerkung. Und verwies auf ein verstärktes Streben der NATO »nach qualitativer und quantitativer Überlegenheit«, auf intensive Vorbereitungen für alle Arten von Krieg. Deshalb müsse man die militärgeografischen Gegebenheiten eines Aggressors genau kennen, um sie für Handlungen der eigenen Truppen auszunutzen. »Die Bedrohung, dass der Kalte Krieg urplötzlich in einen heißen Krieg umschlagen könnte, war allgegenwärtig«, sagt Paul Bergner, Autor mehrerer Bücher über den Kalten Krieg. Er hatte das Dokument zeitweilig zu Studienzwecken benutzt.

Jener Cold War - charakterisiert durch Churchills Wort vom Eisernen Vorhang und vom »falschen Schwein«, das man 1945 geschlachtet habe - hatte die System-Auseinandersetzung zwischen West und Ost über Jahrzehnte in die Extreme getrieben. Atomsichere Bunker zur Kriegsführung dies- und jenseits der deutsch-deutschen Grenze bis weit hinein in den europäischen Raum. Unterwelten in militärischer Mission. Psychologische Schlachten im Äther. Raketen mit atomaren Sprengköpfen. Ein NATO-Doppelbeschluss, der die andere Seite zu Abrüstungsverhandlungen aufforderte und sie zugleich scheitern ließ, bevor sie begonnen hatten. Denn britische und französische Raketen sollten außen vor bleiben. Gefühlte und tatsächliche Bedrohung. Der Westen provozierte mit Manövern bis nahe an die Trennlinie zwischen Ost und West. Hochrüstung allüberall. Man beäugte sich misstrauisch via Satellit mit extrem auflösenden Kameras und war sich dennoch keineswegs sicher, genug über die andere Seite zu wissen.

Netz von getarnten Raketenstellungen

So trug die NVA ausgangs der 70er Jahre aus vielen Quellen zusammen - darunter solchen der Geheimdienste -, was über die andere Seite zu erfahren war. Die BRD verfügte bis dahin über 153 unterirdische Führungsstellen - Bunker, resistent gegen Massenvernichtungsmittel, eingerichtet für 30 Tage und mehr. Ob NATO, Bundeswehr, Ministerien oder Staaten wie Luxemburg, Belgien oder Frankreich - wer welche unterirdischen Führungszentralen benutzen sollte, wurde genau aufgelistet. Außerdem 80 Objekte, in denen diverse Sprengköpfe für Kernwaffen gelagert wurden.

Man kannte das Netz der zu dieser Zeit 1184 getarnten Fla-Raketen-Stellungen, deren Standorte, Typen und Reichweiten. 490 militärisch nutzbare Flugplätze wurden registriert, 21 darunter mit Kernwaffenlagern ausgestattet. Elf Kartensätze machten Daten, Orte und Räume anschaulich. »Das Auskunftsdokument entspricht dem Wissensstand um 1980. Ob das später alles immer noch korrekt war, weiß man freilich nicht, aber es ist gut, dass dies nie der militärischen Realität standhalten musste«, meint Bergner.

Ganz am Rande: Auch der Westen trug damals dazu bei, dass das rote Buch überhaupt in seiner heutigen Form existiert. Denn von Moskau waren exzellente Ansprüche an die technische Qualität des Produktes gestellt worden, vornehmlich auch an Anschaulichkeit und Präzision. Dem Vernehmen nach wurde dies deshalb ein Fall für Alexander Schalck-Golodkowski, damals Müggelsee, später Tegernsee. Sein Imperium Kommerzielle Koordinierung (KoKo) im DDR-Außenhandelsministerium machte bekanntermaßen nicht nur Geschäfte mit dem Westen, sondern hatte dort auch ziemlich gute Freunde. So gelang es, für das Projekt Auskunftsbericht, damals Geheime Kommandosache, einen computergesteuerten Farbdrucker zu beschaffen, eine Neuentwicklung, die es bis dahin auf dem europäischen Markt nicht gab.

Sich ein genaues Bild von seinem potenziellen Gegenüber zu machen, war keine Erfindung des einstigen Ostens. Auch Bundeswehr und NATO mühten sich, ähnliche Daten von der anderen Seite zu bekommen. Militärspionage gehörte zum Alltag. Bekannt ist, dass allein der Bundesnachrichtendienst (BND) im Verlaufe von gut 40 Jahren an die 10 000 Kraftfahrer, Omas, Diplomaten, Handelsreisende, Lokführer, Hausfrauen und Studenten dazu verführte, sich ein Zubrot zu verdienen und bei Reisen in und durch die DDR Details über Kasernen, Garnisonen, Tanklager, Flugplätze oder Raketenstellungen zu liefern. Im Lage-Raum des NATO-Bunkers »Erwin« bei Börfink in Rheinland-Pfalz hängen noch Reste einer Karte mit ähnlichen Details aus Osteuropa.

Das Militärressort im Bundesarchiv Koblenz bestätigte gegenüber »nd«, dass der BND Aufklärung Richtung Osten betrieb. Er unterhalte auch eine eigene Kartographische Abteilung. »Dort wurden z. B. Dokumentationen über die Städte der DDR und deren Infrastruktur geführt und Übersichtskarten zu den unterschiedlichsten Themenbereichen«, heißt es. Sie hätten teilweise auch dem Militär zur Verfügung gestanden. Dass es jedoch in der Bundeswehr ein Pendant zum NVA-Auskunftsbericht gegeben haben könnte, sei wenig wahrscheinlich.

Umtriebige Spione aus dem Westen

Das liege daran, »dass die Kompetenzen der Bundeswehr in der NATO auf das Territorium der BRD beschränkt« gewesen seien. Militärgeografische Arbeiten außerhalb des NATO-Territoriums seien »fast ausschließlich von den Briten und US-Amerikanern« vorgenommen worden. Allerdings habe die Bundeswehr »zwei Atlanten der Militärischen Landeskunde sowie Handbücher für Flugzeugführer für das Gebiet der DDR und der Tschechoslowakei und Einzelkarten zu bestimmten Themen (Eisenbahnen und Straßennetz, Standorten o. ä.) herausgegeben«. Großbritannien und USA verfügten »zumindest in der DDR über offizielle Spione (Militärverbindungsmissionen MVM) und praktischerweise die Luftkorridore nach Westberlin«. Weshalb sich nicht ausschließen lasse, dass es ein vergleichbares Dokument in deren Streitkräften gegeben habe. »Ein solches Dokument dürfte sehr wahrscheinlich vernichtet worden sein und kann, wenn überhaupt, nur in den Archiven dieser beiden Staaten überlebt haben«, wird vom Bundesarchiv vermutet.

Tatsächlich waren die Offiziere der MVM und der Militärinspektionen (MI) ständig in den DDR-Bezirken, im Ostteil Berlins, überall dorthin unterwegs, wo Truppen stationiert waren, zu Verladebahnhöfen, entlang von Straßen und Schienen, zu Häfen. Mike M. aus den USA, ein ausgewiesener Kenner solcher Touren, meinte gegenüber Bergner, die ihn eigentlich »interessierenden Raketenobjekte der Sowjets lagen meist sehr tief in einem ständigen Sperrgebiet, da kamen wir nicht ran«. Es habe aber Zufallstreffer gegeben, wenn Transporte in die Randregionen solcher Sperrgebiete führten. Dass es im Raum Demen in Mecklenburg eine größere NVA-Einheit gab, sei ihm bekannt gewesen, nicht aber, dass sie über Mittelstrecken-Raketen SS 23 verfügte. M. war kein Kleiner in der US-Spionage-Diplomatie - er wurde später am Konferenztisch gesehen, an dem mit der UdSSR über Abrüstung verhandelt wurde.

Die andere Seite zu unterschätzen, erwies sich immer wieder als Gefahr für den Frieden. Francis Gary Powers jr., dessen gleichnamiger Vater bekanntlich am 1. Mai 1960 nahe Swerdlowsk bei einem Spionageflug in einer U-2 abgeschossen wurde, meinte bei einer Bunkertour mit Bergner zu dem damaligen Vorfall, sein Vater sei »nicht in erster Linie überlebendes Opfer einer sowjetischen Luftabwehrrakete, sondern Opfer der Überheblichkeit und der Unwissenheit seiner damaligen Vorgesetzten gewesen, die ihm gesagt hatten, er möge ruhig fliegen, er fliege so hoch, ›dass Dich kein Russe erreichen kann‹«. Powers jr. betrieb einst ein dem Kalten Krieg gewidmetes Museum in Virginia.

Zu den eher ungewöhnlichen Top-Secret-Dokumenten gehörten derweil jene, die allein zum Zwecke zusammengestellt wurden, sie hernach zu veröffentlichen. Solches geschah am 29. Januar 1989. »Kein Kommentar, streng geheim,« hieß es damals auf die verwunderte Nachfrage, warum ein stellvertretender ND-Chef und der für Militärpolitik zuständige Redakteur an jenem Sonntagmorgen dringend ins DDR-Verteidigungsministerium nach Strausberg gebeten wurden. Kein Redaktionsauto, hieß es, man würde abgeholt und wieder gebracht, und zwar mit einem Dienstfahrzeug des Ministeriums. So erging es auch Rundfunk- und Fernsehleuten, den Reportern der Agentur ADN.

Brisante Texte und Tabellen

In einem Stabsgebäude machte ein General auf die höchste Geheimhaltungsstufe seiner Einlassungen aufmerksam und erläuterte das Dokument mit dem sperrigen Namen »Erklärung des Komitees der Verteidigungsminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages - Zum Verhältnis der zahlenmäßigen Stärke der Streitkräfte und Rüstungen der Organisation des Warschauer Vertrages und des Nordatlantischen Bündnisses in Europa und den angrenzenden Seegebieten«.

Auf der Rückfahrt schauten sich beide ND-Redakteure die brisanten Texte und Tabellen näher an, die am nächsten Tag Zeitungsseiten und Nachrichtensendungen in Ost und West füllten. Nach einer Analyse der jeweiligen Waffenpotenziale war man zu dem Schluss gekommen, dass in Europa eine »annähernde Parität« herrsche, die keiner Seite die Chance biete, sich einen entscheidenden militärischen Vorteil auszurechnen. Deshalb gelte es, derzeitige »Ungleichgewichte und Asymmetrien zu beseitigen, die gefährlichsten Arten von Angriffswaffen wesentlich zu reduzieren« und den Strukturen beider Bündnisse einen ausgeprägter Verteidigungscharakter zu verleihen, so die Erklärung. Der Warschauer Vertrag rüste daher unabhängig von Verhandlungen innerhalb von zwei Jahren 500 000 Mann und 10 000 Panzer ab. Auch die NVA trage dazu bei.

In den nachfolgenden Tagen löste der Streitkräftevergleich in Westeuropa viel Zuspruch der Friedensbewegung und heftiges Pro und Kontra in der politischen Klasse aus. Ein bis dahin höchst geheimes Dossier hatte gute Gründe für einen beidseitigen Abrüstungsprozess beschrieben und die Hoffnung genährt, Europa ein wenig sicherer zu machen …

  • Auch für die zehn Landesregierungen der BRD waren Führungsstellen in Bunkern vorgesehen.
  • Im Kriegsfall stand für jeden 33. Bürger ein Bunkerplatz bereit. Jedes Jahr sollten 75 000 Plätze hinzukommen.
  • Es gab 1100 gedeckte Hangars. Von den Flugplätzen war ein massierter Angriff auf das Territorium der DDR und der CSSR binnen 10 bis 30 Minuten möglich.
  • Die NATO-Fliegerkräfte hätten kurzfristig um das Zwei- bis Dreifache verstärkt werden können.
  • 12 Behelfsstart-/Landebahnen waren auf Autobahnen und 600 Hubschrauberlandeplätze vornehmlich nahe militärischer Objekte angelegt.
  • Das Eisenbahnnetz ließ in West-Ost-Richtung etwa 500 Züge/Tag zu, was es möglich machte, innerhalb von 24 Stunden 7,5 Divisionen heranzuführen.
  • Als Schwachpunkte wurden westliche Eisenbahnknoten, Strecken durch Industriezentren, Brücken über Wasserhindernisse und im Süden die hohe Zahl der Tunnel genannt.
  • Die Durchlassfähigkeit der Straßen gestattete es, innerhalb von 24 Stunden 20 Divisionen über rund 550 Kilometer an die DDR-Staatsgrenze heranzuführen. nd
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