30 Prozent noch minderjährig
Schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt es in Artikel 16 »Die Ehe darf nur auf Grund der freien und vollen Willenserklärung der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden.« In Deutschland ist die Zwangsehe konkret erst seit März 2011 durch ein vom Bundestag verabschiedetes Gesetz strafbar, davor galt sie ein besonders schwerer Fall von Nötigung. Jemanden zur Heirat zu zwingen wird nach dem Gesetz mit einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten bis zu sechs Jahren geahndet. Außerdem wurde das Rückkehrrecht für Betroffene, die gegen ihren Willen im Ausland festgehalten und verheiratet werden, von sechs Monaten auf fünf bzw. zehn Jahre verlängert.
Als eine erzwungene Ehe gilt, angelehnt an den Gesetzestext, wenn mindestens einer der Eheleute durch die Ausübung von Gewalt oder durch die Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Heirat gezwungen wird und es nicht wagt sich zu widersetzten oder die Weigerung ignoriert wird. Oft wird das Schweigen durch physische oder sexuelle Gewalt, Nötigungen, Einsperren, Entführung sowie emotionale Erpressung erpresst. Schwierig ist manchmal die Unterscheidung zu einer arrangierten Ehe. Letztere ist zwar von Verwandten, Bekannten oder von Ehevermittlern initiiert, wird aber, so zumindest die Definition, im vollen Einverständnis der Eheleute geschlossen.
In einer Studie des Familienministeriums aus dem Jahr 2011 wurden 830 Beratungs- und Schutzeinrichtungen nach ihren Erfahrungen mit dem Thema Zwangsheirat befragt. Knapp die Hälfte gab an, dass es bei den Beratungsgesprächen schon einmal eine Rolle spielte. Im Jahr 2008 haben sich nach den Angaben der Hilfsorganisationen insgesamt 3443 Personen zu der Problematik gemeldet, darunter 252 Männer (7 Prozent) . Von Zwangsverheiratungen sind in erster Linie Mädchen und Frauen bedroht oder betroffen, die meisten waren zwischen 18 und 21 Jahre alt, knapp 30 Prozent waren noch minderjährig. Die jüngste Beratene war 9 Jahre, die älteste 55 Jahre. Fast alle, die sich bei den Einrichtungen meldeten, hatten einen Migrationshintergrund, die meisten waren aber in Deutschland geboren (32 Prozent), gefolgt von der Türkei (23 Prozent).
Wie sehr die Einschüchterungsversuche Wirkung zeigen, wird dadurch deutlich, dass sich nur ein Drittel der Betroffenen selbstständig bei den Beratungsstellen meldeten, die meisten wurden von Freunden ermuntert oder hatten über LehrerInnen und SozialarbeiterInnen den Kontakt gesucht. In den meisten Fällen war es der Vater, der mit einer Zwangsverheiratung drohte oder diese auch durchsetzte, wie 80 Prozent der Opfer berichteten. cod
Weiterlesen:
Ja-Wort im Namen der Ehre
Terre des Femmes gibt Seminare für LehrerInnen zum Thema Zwangsverheiratung / Interview mit Myria Böhmecke
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.