Die überschätzte Macht der Gene
Psychologen erforschen die biologischen und kulturellen Grundlagen der Intelligenz
In einem bereits zu DDR-Zeiten konzipierten und bis heute fortgeführten interdisziplinären Forschungsprojekt wird der Mensch kurz als »biopsychosoziale Einheit« bestimmt. Als Einheit wohlgemerkt, die auf einer dialektischen Struktur fußt, und nicht als bloße Summe von biologischen, psychischen und sozialen Eigenschaften, die sich im Prinzip individuell quantifizieren lassen.
Eigentlich sollte man annehmen, dass solche »Summenmodelle« des Menschen auch andernorts keine Verwendung mehr finden. Dem ist jedoch nicht so, wie ein Blick auf die Diskussionen über die Erblichkeit der Intelligenz zeigt. Dort sind weiterhin Aussagen verbreitet wie: »Die Intelligenz eines Menschen hängt zu 50 Prozent von seinen Genen und zu 50 Prozent von seiner Umwelt ab.« Viele verstehen dies dahingehend, dass sich der Phänotyp Intelligenz als Summe von genetischen Anlagen und Umwelteinflüssen darstellen lässt. Das ist aber ein Fehlschluss, den auch Thilo Sarrazin unlängst strapaziert hat, um seine rassistischen Thesen vom intellektuellen Verfall der deutschen Gesellschaft zu stützen. In Wirklichkeit stehen Gene und Umwelt in einer unauflösbaren Wechselwirkung, die der kanadische Psychologe Donald O. Hebb schon vor 40 Jahren wie folgt illustriert hat: »Beide Faktoren sind von 100-prozentiger Wichtigkeit. Ihre Beziehung zueinander ist nicht additiv, sondern multiplikativ. Die Frage nach dem Beitrag des Erbguts zur Intelligenz ist so unsinnig wie die Frage nach dem Beitrag der Breite oder Länge zur Fläche eines Feldes.«
Auch beim Hören einer Klaviersonate von Beethoven käme wohl niemand auf die Idee, herausfinden zu wollen, zu wie viel Prozent deren Qualität vom Können des Pianisten bzw. von der Güte des Instruments abhängt. Beides ist voneinander nicht zu trennen, und wer es dennoch zu trennen versuchte, würde bei Musikern nur Unverständnis ernten.
Sofern man überhaupt tragfähige Prozentangaben für die Erblichkeit der Intelligenz findet, beziehen sich diese nicht auf Individuen. Denn die absolute Intelligenz eines Menschen könne man gar nicht messen, erklärt die an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich lehrende Psychologin Elsbeth Stern: »Für eine seriöse Erblichkeitsschätzung kann man nur die relativen Unterschiede innerhalb einer Gruppe vergleichen.« Nehmen wir als Beispiel die Aussage, dass Wissenschaftler für die Intelligenz bzw. den Intelligenzquotienten (IQ) eine Erblichkeit von 50 Prozent ermittelt hätten. Im Klartext heißt das: Die in einer Population gemessenen IQ-Unterschiede gehen zu 50 Prozent auf genetische und zu 50 Prozent auf nicht-genetische Faktoren zurück. »Man muss deshalb nicht von der Vererbung von Intelligenz, sondern von der Erblichkeit von Intelligenzunterschieden sprechen«, schrieb Stern - gegen Sarrazin gerichtet - im September 2010 in der Wochenzeitung »Die Zeit«.
In einem jetzt mit Aljoscha Neubauer (Universität Graz) verfassten Buch greift sie dieses Problem erneut auf, um daraus Vorschläge für die aktuelle Bildungsdiskussion abzuleiten. Vor- ab allerdings definieren die Autoren, was sie unter Intelligenz verstehen, nämlich »eine generelle Lern- und Denkfähigkeit, die insbesondere im Umgang mit komplexen und symbolisch vermittelten Inhaltsgebieten zum Tragen kommt«. Manches hiervon lernen Menschen ganz von allein. Das Meiste jedoch muss ihnen von professionellen Lehrern nahegebracht werden, die in einem gewachsenen kulturellen Umfeld agieren, wie Stern und Neubauer betonen und dabei auf den Erwerb der Schriftsprache ebenso verweisen wie auf das Erlernen mathematischer Grundoperationen.
Dass dies einem Kind leicht, dem anderen schwerer fällt, lässt sich schlechterdings nicht bestreiten. Interessanter ist jedoch die Frage: Welche Ursachen liegen dem zugrunde? Stern und Neubauer sind überzeugt, »dass Menschen sich in der Effizienz, mit der das Gehirn Informationen verarbeitet, unterscheiden.« Soweit mag man den Autoren beipflichten, was indes zum Widerspruch reizt, ist der Nachsatz, der da lautet: »... beim Zustandekommen dieser Unterschiede spielen die Erbanlagen eine entscheidende Rolle«.
Und damit wären wir mitten im Zentrum einer Debatte, die seit vielen Jahren geführt wird, ohne dass man sagen könnte, sie sei abgeschlossen, auch wenn Stern und Neubauer das Gegenteil suggerieren. So bezeichnen sie beispielsweise Aussagen als wissenschaftlich gesichert, die andere Psychologen begründet anzweifeln. Drei seien hier genannt. Erstens: Unterschiede in der Intelligenz können in hohem Maße auf Unterschiede in den Genen zurückgeführt werden. Zweitens: Die aus Intelligenztests abgeleiteten kognitiven Fähigkeiten von Menschen sind ein Indikator für deren Erfolg in Schule und Beruf. Drittens: Die zwischen Individuen festgestellten IQ-Unterschiede sind robust und selbst durch eine gute Bildung nur wenig zu beeinflussen.
Stern und Neubauer gehen in ihrem Buch wie selbstverständlich davon aus, dass das, was ein Intelligenztest misst, tatsächlich mit dem zusammenfällt, was man gemeinhin Intelligenz nennt. Konkret werden in solchen Tests aber nur die sprachlichen, räumlichen und mathematisch-logischen Fähigkeiten erfasst. Darüber hinaus ähnelt die ganze Prozedur einer schulischen Leistungskontrolle, bei der die zur Wahl stehenden Antworten standardisiert vorgegeben sind. Das verlangt nicht unbedingt Kreativität, deren produktive Kraft gerade darin liegt, von allgemein anerkannten Lösungswegen abzuweichen. Daher geht auch der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger mit Intelligenztests scharf ins Gericht: »Gemeinsam ist allen Rätselfragen, die der Test stellt, dass sie in der Regel nur eine einzige richtige Antwort zulassen. Das ist im Grunde ziemlich seltsam. Denn in der wirklichen Welt sind solche Situationen die Ausnahme. Ganz gleich, worum es bei unseren Entscheidungen geht - um eine Bewerbung, einen Wahlkampf, eine Scheidung, einen Mietvertrag -, stets haben wir es mit zahlreichen Variablen zu tun, die noch dazu wechselseitig voneinander abhängen. Sie sind mit einem Wort komplex.«
Dass zwischen IQ und Schulerfolg dennoch eine auffällige Korrelation besteht, sagt nichts über die dahinter verborgenen Kausalitäten. So können gute Schulleistungen einerseits aus einer hohen Intelligenz resultieren. Andererseits kann eine hohe Intelligenz die Folge einer guten Schulbildung sein. Wie auch immer, dass man in Deutschland generell mehr in die Bildung investieren sollte, um das geistige Potenzial, das in vielen Menschen steckt, besser zu nutzen, steht für Stern und Neubauer außer Frage. Und sie verweisen auf ein weiteres wichtiges Faktum: Die kognitiven Fähigkeiten entwickeln sich nicht bei allen Kindern synchron. Schon deshalb sei das Gymnasium ab zehn Jahren nicht zu rechtfertigen. Denn damit würden all jene Kinder benachteiligt, die für die Reifung ihrer geistigen Fähigkeiten noch einige Schuljahre mehr benötigen.
Was die Autoren überdies empfehlen, ist eine frühe Förderung von Kindern im Kindergarten. Und das nicht nur, weil Mädchen und Jungen aus bildungsfernen Schichten hier die Gelegenheit finden, ihre sprachlichen und kognitiven Kompetenzen rascher zu entfalten. Im Grunde kommt eine solche Einrichtung allen Kindern zugute. Man denke nur an das gemeinsame Spielen und Basteln, die vielgestaltige Kommunikation oder das Anlegen eines Gartens. Solche Tätigkeiten fördern die Kreativität und trainieren das Sozialverhalten. Selbst in gut gestellten und bildungsnahen Familien hätten Kinder dazu häufig keine Möglichkeiten, betonen Stern und Neubauer, deren Buch übrigens weitere bildungspolitische Anregungen enthält, die auch ohne Rückgriff auf die leidige IQ-Debatte bedenkenswert sind.
Elsbeth Stern/Aljoscha Neubauer: Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen. Deutsche Verlags-Anstalt München, 303 S., 19,99 €.
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