Die Ausnahme und die Regel

Theatertreffen: Fast fünf Stunden Erschütterung - »Jeder stirbt für sich allein«, Thalia Hamburg

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

In Luk Percevals »Macbeth« am Thalia Theater Hamburg ließ Bühnenbildnerin Annette Kurz Tische und Stühle vom Schnürboden herabhängen, in »Hamlet« ein Dickicht aus Jacken, in »Brüder Karamasow« einen Wald aus Metallrohren. Himmel und Horizont aus Dingen, die uns überleben. Material, von dem der Tod uns entfernt - nun erzählt es uns von uns, kalt, gespenstisch.

Jetzt bildet ein Berliner Stadtmodell die gesamte Bühnenwand, ein hochgeklapptes Relief, düster. Das östliche Straßennetz, geformt aus unzähligen Gegenständen des Alltags, Telefone und Töpfe, Schachteln und Spielzeuge, Taschenn und Brillen, Bücher und Bürsten. Ein Museum der Erinnerung. Ein Fundus des geschichtlichen Nachlasses. Eine Topographie des Trödels, der vom Leben übrig blieb, und vom Sterben. Ein Friedhof aus Flohmarktreichtümern - so viel Hausrat, und wie viele Hausmärchen und Welttragödien? Schon dieses Bild greift fragend ans Herz.

In Hans Falladas Roman »Jeder stirbt für sich allein« verteilen Anna und Otto Quangel 18 Flugblätter mit dem Vorwurf, Hitler habe ihren im Krieg gefallenen Sohn ermordet. Dafür wird das Ehepaar hingerichtet werden, und auf einer Bühne, die lediglich aus einem Tisch für unterschiedliche Situationen besteht (Wohnung, Verhörkeller), formt sich ein chorisches, monologisches, ein bedrängend schweigendes oder wund bebendes Spiel. Szenen, welche enden, überlagern sich wie in einem Film mit dem Beginn neuer Szenen. Wenn die Gestalten reflektierend an die Rampe treten, klingt eine archaische Fremde an, die zugleich etwas enorm Gegenwärtiges besitzt.

Diese erregende Inszenierung von Luk Perceval schaufelt Sätze herbei, die auf der Bühne nicht gesagt werden, aber die doch geistern … Ich konnte doch nichts machen. Ich hatte doch mit den eigentlichen Untaten nichts zu tun. Ich blieb doch trotz allem ein kritischer Mensch. Ich habe mich nicht wirklich täuschen lassen. Ich wusste ja nicht, dass ... Ich dachte, es würde sich bald etwas ändern. Ich habe an der Stelle, an der ich arbeitete, mein Bestes getan. Ich dachte, wenn ich aufgebe, überlasse ich den Schlimmen das Feld. Ich war dabei, aber nicht frenetisch. Ich denke, man muss das differenziert sehen. Ich bin für objektive Aufarbeitung ...

Das sind so Sätze, aus denen immer wieder die Säulen der Erde gebaut werden. Diese Sätze, das ist der Beton, der sich in Seelen ausbildet, weil Seelen von Natur aus weich und also bedürftig nach Bestehenshärte sind. In einer Welt, die den Menschen gut kennt und die also weiß, wie er denkt und handelt und wie er am besten gelenkt werden kann, nämlich nach der bekannten Devise: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Das ist aber das Ende der Moral. Denn mit dieser Logik wird Moral abhängig von jenen Zulieferungen, die ruhig stellen: dem gefüllten Teller, dem Gehalt, den genehmen Verhältnissen, den gewissen Behaglichkeiten - Brot nährt, aber es erpresst auch.

Das Ehepaar Quangel setzt Moral vor den Standard ihres Lebens - und gälten obige Sätze nur für die Betrachtung der Hitler-Diktatur, wäre Percevals Inszenierung eine sehr sinnreduzierte Müh'. Wäre nur Historismus. Sie ist aber schmerzende Bohrung. Die Aufführung sagt: Einem lediglich von den materiellen Vorgängen abhängigen Bewusstsein fehlt jene Integrität, die nötig ist, um sich als moralisch behaupten zu können. Denn Moralität ist mitunter gezwungen, totaler Widerstand gegen die Zumutung der Verhältnisse zu sein. Das vertragen am wenigsten jene Gesellschaftstheorien, die grundsätzlich alles aus den Verhältnissen erklären wollen.

Und so ist Falladas Geschichte, wie sie Perceval erzählt, ein erschütterndes Gleichnis, das über diese eine, die entsetzlichste Diktatur hinausgeht. In Gesellschaftsordnungen danach gab es genug Fressen, aber gab es auch unumkehrbar die bessere, nun endlich haltbare Moral? Oder ist die Decke, die über der Barbarei wuchs, nicht immer noch dünn, nur in Grenzen belastbar durch forsches, siegesgewisses Aufstampfen?

Wer ist denn frei von Feigheit, unberührbar durch Anpassung, unverführbar für Willigkeit, unbeeindruckt von den Früchten der Folgsamkeit? Weil aller Mangel an Moral sich heute und hier nicht unter extremen Bedingungen ausbreitet, darf er deshalb milde betrachtet werden? Demokratie ist nicht Diktatur - aber wo beginnt die Aufweichung, wer stellt sie fest, wer fällt sich selber so in die Bequemlichkeit, in die Gleichgültigkeit, in das Abwarten, wie man einem Feind in den Arm fällt?

Fragen, die dieser Reigen aufwirft, der mit bezwingender Einfachheit und Direktheit (und groteskem Witz!) jene skizziert, die allen Ordnungen die Kontur geben: kleine Gewinnler, große Idealisten, bescheidene Stillhalter, fleißige Pflichterfüller, beflissene Weitermelder, miese Druckausüber.

Aber da ist eben auch das andere Leben, dem Perceval eine Hymne spielt: Cathérine Seifert als einfache Postfrau tritt im Wissen um mögliche Folgen aus der Nazipartei aus - Roman und Regie gestatten ihr das Weiterleben, und es freut, wenn Kunst so gerecht sein darf. Gabriela Maria Schmeide als alte Jüdin auf dem Weg in den Freitod: herzgreifend. Barbara Nüsse als Richter Fromm: Im Büro fällt er Todesurteile, daheim versteckt er eine Jüdin. Der Mensch: ein Kosmos an Möglichkeiten; wer über ihn urteilt, muss auf Irritation gefasst bleiben.

Alexander Simon gibt den Erzdenunzianten Barkhausen: Der Hitler-Gruß steigert diesen Menschen, aber Simon spielt das so, als versinke er mit jedem Gruß ein Stück weiter in den Boden; die Selbsterhebung als Niederwurf. Daniel Lommatzsch ist der Jammer-Egoist Enno Kluge; tief schmerzend, wie ein mieser, mittlerer, aber erbarmungswürdiger Lebenskleinkünstler nur deshalb vernichtet wird, weil das Regime seine »stolzen« Vernichtungs-Bilanzen braucht.

Vielleicht das wichtigste Wort für diese viereinhalb Stunden: Nähe. Nähe zum Unverträglichen, zum Unerträglichen, das in einen Menschen passt. Da ist der dämonisch graue Kommissar Eschrich des André Szymanski: steht unter Erfolgszwang, verelendet in nackter Brutalität, aber schlägt gegenüber seinen Opfern Töne eines selber Gepeinigten an, der Trost spenden möchte. Was eisiger Zynismus sein könnte, ist Zerrissenheit - der man Gefühl verweigern möchte, aber nicht kann.

Die Ordnung schnappt nach Opfern, jede Ordnung. Um die Quangels (Oda Thormeyer, Thomas Niehaus) formt sich, ganz auf Blicke und Bewegungen eines großartigen Ensembles gestellt, ein erschütterndes Bild der Existenz. Ängstlicher, gejagter, zerreibungsharter Existenz. Der Einzelne als bittere Regel jedes Geschichtsprozesses - und zugleich dessen ermutigende Ausnahme. Stärker kann man Liebe zum Menschen nicht zeigen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -