Tausendjährige Sündenböcke
Viktor Orbán grenzt sich vom Antisemitismus in Ungarn nur mit Worten ab
»Aus moralischer Verpflichtung heraus haben wir null Toleranz gegenüber dem Antisemitismus«, erklärte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán am Sonntag beim Eröffnungsdinner der Tagung des Jüdischen Weltkongresses in Budapest. Doch wirklich beruhigend klangen seine Worte nicht, denn bisher bestätigte er sie nicht mit Taten: Der Premierminister grenzt sich nämlich weder von der rechtsextremen Partei Jobbik (Die Besseren) noch von dem ihm nahestehenden Journalisten Zsolt Bayer ab, der mit seinen antisemitischen Hetzartikeln ab und an für Empörung sorgt.
»Orbáns Rede war einfach schändlich«, findet Károly Vörös, der ehemalige Chefredakteur der ungarischen Tageszeitung »Népszabadság«. »Er hat den ungarischen Antisemitismus generalisiert und dadurch die Verantwortung dafür von sich gewiesen. Er sagte kein Wort über Jobbik und hat auch nicht erwähnt, dass die Rehabilitierung der seinerzeitigen Leiter der ungarischen Judenverfolgung mit Zustimmung der heutigen Regierung erfolgt.«
Vörös findet es empörend, dass Orbán immer wieder über die Verteidigung der in Ungarn lebenden Juden gesprochen und dabei den Eindruck erweckt hat, als wären die Betroffenen keine ungarischen Staatsbürger.
»Orbán hat schon mehrmals bewiesen, dass er gelegentlich Aussagen macht, die nur politischen Zwecken dienen, sonst aber nicht viel taugen. Vor anderthalb Jahren hat er die EU-Diplomaten ausdrücklich gebeten, nicht auf seine Worte, sondern auf seine Taten zu achten«, erinnert sich der ungarische Philosoph György Gábor. Er zweifelt nicht daran, dass auch die Rede des Regierungschefs auf der WJC-Plenarversammlung ein bloßer diplomatischer Akt war. Denn in Wirklichkeit widersetze sich Orbán nicht dem Antisemitismus: Mit seinem Schweigen unterstütze er rassistische Äußerungen von Mitgliedern seiner Partei Fidesz und mit seiner Passivität billige er die Aktionen von Jobbik. »Er befindet sich im Irrtum, was die Normen eines Rechtsstaates angeht: Einerseits wollte er den Motorradkorso der Neonazis unter dem Motto ›Gib Gas!‹ autoritär verbieten, andererseits tritt er gegen Jobbik nicht auf«, erläutert Gábor.
»Er sollte öffentlich bestätigen, dass Jobbik eine Neonazi-Partei ist, von der er sich klar abgrenzt«, resümiert Károly Vörös. Über den Grund, warum Orbán diesen Schritt nicht geht, ist er mit György Gábor einig: Der Ministerpräsident befürchte, dass ihn eine klare Stellungnahme gegen die Rechtextremen bei den nächsten Wahlen zu viele Stimmen kosten könnte. Die Verstärkung judenfeindlicher Tendenzen in Ungarn dürfe aber nicht unterschätzt werden: In den vergangenen 20 Jahren habe sich die Anzahl der Antisemiten verdoppelt. Dieses Phänomen erklärt Vörös mit der Tatsache, dass Ungarns Verantwortung im Zweiten Weltkrieg und im »Realsozialismus« bis heute unter den Teppich gekehrt worden ist. Die Menschen seien mit vielen Fragen der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht konfrontiert worden, daher suchten sie immer noch Sündenböcke.
»Ich glaube nicht daran, was Fidesz hartnäckig beteuert, dass die Politiker als moralische Vorbilder dienen müssen. Ich bin mir aber sicher, dass sie einige ethische Grundlagen festlegen müssen. Uninformierte oder auch ungebildete Menschen, deren einziger Anhaltspunkt die Worte von Politikern sind, handeln oft so, wie sie es bei denen sehen: Wenn sie hören, dass sich Abgeordnete zu antisemitischen Äußerungen hinreißen lassen, dann denken sie, dass solches Verhalten akzeptabel ist«, erklärt der Philosoph Gábor. Es sei ja durchaus notwendig, dass die Parteien in vielen Fragen nicht einer Meinung sind, sagt er, aber daran, dass die Menschenwürde für alle als grundlegender Wert zu gelten hat, dürfe es keinerlei Zweifel geben.
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