»Blinde Zeiger gen Mitternacht«

»Krieg und Frieden« beim Theatertreffen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Wer zur Welt kommt, kommt gewöhnlich mit dem berechtigten Verdacht zur Welt, er komme von nun an zu kurz. Das ist die Geburt der Schlachten. Der Schlachten auf großen Feldern - und während einer Umarmung.

Sebastian Hartmann inszenierte am Centraltheater Leipzig eine Art Biografie der Schlachten - eine eigene Fassung von Lew Tolstois »Krieg und Frieden«. Mit vierzehn Schauspielern wuchtete er fünf Stunden Streit um Liebe und Hass, Leben und Tod, Glaube und Wissen, Gott und Freidenkerei auf die Bühne. Präzis und ausufernd, albverträumt und albern, laut vehement und leise wehend. Die Welt aufgerissen wie eine Wunde und zugleich undurchdringlich - vor einem fortwährenden Wolkenziehen, das daran denken lässt: Nebel, das Wort rückwärts gelesen, heißt nicht zufällig: Leben.

Krieg als Pflicht. Blutstürze als grauenhafter Kitzel. Jedes Miteinander: eine Überforderung. Alle Güte: ein Missverständnis. Jeder Kuss: eine Lüge. Einzig jeder Hieb in eine Seele: ein ehrliches Handeln. Der Mensch, emsig auf Suche nach jener Alltäglichkeit, also Nichtigkeit, die sein Dasein beruhigen würde - er endet stets in vermeintlichen Wichtigkeiten, die alle Balance ruinieren.

Erzählpartikel, Stimmungssternschnuppen, Fragebrocken rauschen durch den Abend. Ist von Freiheit die Rede, scheint ein Mund wie unter der Folter zu schreien. Geht das Wort vom Fleisch, spricht da kein Mensch, es klingt nach einem Raubtiermaul, das reißt. Und wo es ums »Ich« geht, formt auf der Szene ein Menschenkörperhäuflein kauernd dieses Wort: Tote; sich vor Kälte aneinander Schmiegende.

Jeder spielt verschiedene Rollen. Nur keine Sorgfalt darauf verwenden, wer gerade Pierre Besuchow ist, wer Andrei Bolkonski, wer Natascha, wer sonstwer! Hier werden Themen durchspielt, Bewusstseinsfragmente getürmt. Erkenntnisse zerbrüllen sich gegenseitig, zerrissene Herzen wimmern. Das Bühnenbild, das Regisseur Hartmann gemeinsam mit Tilo Baumgärtel schuf: eine bühnenbreite Platte, nach allen Seiten hydraulisch drehbar, wird zur Schräge, auf der Menschen abrutschen, hochklimmen wie »blinde Zeiger gen Mitternacht« (Georg Trakl). Es ist die weite Ebene, darauf der klagende Mensch sich verliert; ist Kriegsboden, aus dem Detonationen platzen; manchmal wie ein Floß im Strom der Zeit; unter der Maschinerie öffnet sich Raum für Sinn-Gespräche, die wohl erst des Dunkels bedürfen, um wahrhaftig zu werden. Videos galoppierender Soldaten, schießender Wehrmacht, verbrennender russischer Dörfer.

»Krieg und Frieden«. Nicht die erste Adaption des Epochen-Romans. Tolstoi ist Kaufhaus für alles. Hartmann, der bald scheidende Intendant Leipzigs, eine intelligente Verpreller-Natur, kompromisslos (also angreifbar) in der Wühlkraft gegen das maßvoll Überlieferte - er hat hier bemerkenswert gestaltet und gewühlt.

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