Warschauer Karwochen
Jerzy Andrzejewski beschrieb das Verhalten der Polen während des Aufstands im jüdischen Getto
Wenn ich in Warschau zu Besuch war, wohnte ich immer bei meiner Freundin Krystina Usarek in der Ulica Mila 22. Sie war etwa ein Jahr lang im deutschen Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert gewesen und dann eine bekannte Rundfunkjournalistin im Nachkriegspolen. Als ich sie 1984 kennenlernte, war sie schon im Ruhestand und widmete ihre Zeit u. a. den Gruppen der evangelischen Organisation Aktion Sühnezeichen, wenn sie nach Warschau kamen. Sie veranstaltete für sie eine besondere Stadtführung, die die Stationen der Verfolgung nachzeichnete: das Pawiak-Gefängnis und die Gestapo-Zentrale in der Aleja Slucha, wo vor allem nichtjüdische Polen landeten, aber auch das Getto-Denkmal, wo Willy Brandt seinen berühmten Kniefall tat, den Umschlagplatz, wo die Juden in die Waggons getrieben wurden.
Und die Mila 18 - dort hatte sich während des Gettoaufstands die Kommandozentrale der jüdischen Aufständischen befunden. Es ist ein merkwürdiger Ort: ein Hügel, auf den eine Treppe führt und eine Tafel dem Besucher erklärt, wo er sich befindet. Es bedarf großer Fantasie, um sich das Getto vorzustellen, denn alles hier ist leer, ringsherum stehen nur Plattenbauten aus den 60er Jahren. Es ist still. Im Getto aber müssen dichtes Gedränge und großer Lärm geherrscht haben. Auf dem gesamten Gelände erinnert fast nichts mehr an seine Existenz. Die Nazis haben dort nach dem Ende des Aufstands alles dem Erdboden gleichgemacht. Merkwürdigerweise ist nur der vollkommen überwucherte jüdische Friedhof geblieben.
Krystinas Eltern, ein Lehrerehepaar, waren im Widerstand tätig; auch die junge Krystina selbst, wie die meisten polnischen Pfadfinder. Außerdem versteckten sie zwei Juden, allerdings nicht bei sich zu Hause. Dort nämlich war während der deutschen Besatzung immer ein deutscher Offizier einquartiert. Sie wechselten. Im Frühjahr 1943 war ihr damaliger ungebetener Gast offensichtlich maßgeblich an der Niederschlagung des Gettoaufstands beteiligt.
»Jeden Morgen«, erinnerte sich Krystina, »verschwand er mit frischen weißen Handschuhen und blank geputzten Stiefeln. Abends kam er zurück, die Handschuhe blutbefleckt und ebenso die Stiefel. Er zog die Handschuhe aus und schleuderte sie von sich.« Und sie ahmte die Bewegung mit angeekelter Miene nach.
Ich habe damals viele Polen kennengelernt, die während der deutschen Besatzung im Widerstand gekämpft hatten. Nicht wenige waren deshalb so wie Krystina in deutschen Konzentrationslagern gelandet. Dass in dieser Zeit die meisten Polen ein relativ unaufgeregtes Leben führten, indem sie ihrer Arbeit nachgingen, die deutschen Besatzer nach Möglichkeit mieden und sich nicht um Politik und die Verfolgung der Juden oder anderer Polen kümmerten, das konnte ich mir damals nicht vorstellen.
Aber es gab Erzählungen, die ein solches Bild von Warschau und Polen zeichneten. Der Schriftsteller Jerzy Andrzejewski hat unter dem unmittelbaren Eindruck des Gettoaufstands sofort begonnen, einen Roman darüber zu schreiben: »Warschauer Karwoche« erschien schon 1946 in Polen. Er schildert darin nicht, was im Getto geschah, das konnte er erahnen. Sehen und dokumentieren konnte er die Reaktion der Warschauer Bevölkerung. Er erzählt die Geschichte des Warschauers Jan Malecki, der kurz nach Ausbruch des Aufstandes im Getto seine Jugendliebe wiedertrifft, die Jüdin Irena. Sie war außerhalb des Gettos untergetaucht und hatte ihre Bleibe verloren. Kurz entschlossen nimmt er sie mit nach Hause. Gemeinsam beobachten sie die Kämpfe im Getto.
»Etwas tiefer in der Gasse stand eine Gruppe von Menschen, die - selbst in Sicherheit - dem Kampf zusahen. Ein gedrungener Bursche in kalkbeschmiertem Arbeitsanzug stieß seinen Gefährten an: ›Schau, Heniek, siehst du den toten Juden?‹ Und wirklich, in einem der kleinen Fenster, das schon halb zerschmettert war, sah man eine über das Gesims baumelnde Leiche. ›Siehst du ihn?‹, erkundigte sich der Bursche bei seinem Gefährten. ›Aha!‹ gab jener zurück. ›Prima hängt er dort. Nicht?‹«
Der Aufstand im Getto begann am 18. April 1943 und dauerte 28 Tage. Er war ein Akt der Verzweiflung, weil die jüdischen Anführer sich des Schicksals der Gettobewohner wohl bewusst waren: Ihnen allen drohte der Tod in den Gaskammern von Treblinka. Dorthin, nicht nach Auschwitz, fuhren die Züge vom Umschlagplatz. Treblinka war im Gegensatz zu Auschwitz ein reines Vernichtungslager, es gab nur wenig Arbeit für die Häftlinge dort zu verrichten. Entsprechend gering waren die Möglichkeiten zu überleben.
Die Menschen im Getto wussten das, die meisten Warschauer außerhalb auch. Andrzejewski betrachtete seine Mitbürger kritisch. Er beschreibt sie als gleichgültig, gefühllos, wenn nicht sogar gehässig. Er lässt nicht zu, das Leid der Polen, die ja auch von den Deutschen gefoltert und ermordet wurden, mit dem der Juden zu vergleichen. Aus einem Gespräch Maleckis mit seiner Frau Anna: »Was glaubst du, wird ihnen von unserer Seite jemand helfen?« Malecki zuckte die Achseln. »In der Situation? Wie stellst du dir das vor? Auf welche Weise? Sind nicht genug der Unsrigen zugrunde gegangen und gehen noch immer zugrunde?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht so einfach.«
Auch Alina Margolis-Edelmann, die spätere Frau des wohl bekanntesten Gettokämpfers Marek Edelmann, hat den Aufstand von außerhalb erlebt. Ihre Mutter hatte ihr rechtzeitig die Flucht ermöglicht. Es war nicht sehr schwer, aus dem Getto zu kommen. Schwer war es, danach Unterkunft zu finden. Auch Margolis-Edelmann berichtet in ihrem Buch »Als das Getto brannte« von den Schaulustigen auf der anderen Seite der Mauer: »Das, was sie sagten, wiederhole ich nicht, ich will es nicht wiederholen.«
Etwas anderes beschäftigte sie viel mehr: »Später jedoch dachte ich, dass ich ganz anders gehandelt habe als meine Freundin Felka, die nicht über die Mauer flüchtete, die bei ihrer Mutter im Waggon nach Treblinka blieb. Ich bin nicht bei meiner Mutter im Getto geblieben. Ich habe mich gegen ihre Entscheidung nicht einmal aufgelehnt. Manchmal denke ich jetzt, dass sich damals ein für alle mal erwiesen hat, was ein Mensch wirklich wert ist. Und dass ich nichts wert bin.«
Alina stammte aus einer aufgeklärten jüdischen Familie, die Mutter war Ärztin. Religion spielte in ihrem Leben keine Rolle, sie fühlte sich vor allem als Polin. Bis zum Aufstand. »Genau in diesem Augenblick, dort an der Mauer, fühlte ich mich zum ersten Mal im Leben wirklich als Jüdin. Und ich fühlte, dass ich für immer, bis zu meinem Tod, verbunden bleiben würde mit diesen lebendig Verbrannten, mit den Erstickten und in den Schutzräumen Vergasten, mit denen, die gekämpft hatten und umgekommen waren. Mit denen, deren Schicksal ich nicht geteilt habe.«
Jerzy Andrzejewski beschreibt seine Heldin Irena ähnlich: Auch sie empfindet sich erst jetzt, während des Aufstands, als Jüdin. Nicht nur wegen der Deutschen, sondern vor allem wegen der Polen. Bei Andrzejewski kommen die Nationalsozialisten gar nicht richtig vor. Sie sind irgendwo im Hintergrund und verursachen unermessliches Leid. Wie aber gehen die Menschen, denen dieses Leid angetan wird, miteinander um? Auch Andrzejewski beschreibt Polen, die Juden helfen, aber im Vordergrund seiner Geschichte stehen die anderen, die aus der Not der Juden noch Kapital schlagen oder nur zögerlich helfen. Etwa sein Protagonist Malecki, dem es schnell leid tut, dass er Irena spontan zu sich nach Hause mitgenommen hat.
Und so schreit Irena am Ende, als sie von den Hausbewohnern vertrieben wird, ihnen ihren Hass ins Gesicht: »Und ihr, ihr sollt alle wie die Hunde verrecken. Ausgeräuchert sollt ihr werden wie wir. Niederschießen sollen sie euch. Umbringen!«
Die Jüdin Alina Margolis-Edelmann geht mit ihren Landsleuten milder zu Gericht als Andrzejewski. Für sie stehen die Menschen im Vordergrund, die ihr und anderen Juden geholfen haben: ihre Freundin Inka etwa, die die Verstecke unzähliger Juden organisierte und die nie aufgab, wenn jemand aufflog, sondern sich um neue Papiere und eine neue Zuflucht kümmerte.
Als ein gutes Jahr später, im August 1944, in der ganzen Stadt der Warschauer Aufstand beginnt, müssen auch die nichtjüdischen Bewohner der Stadt erleben, dass niemand ihnen hilft: Auf der anderen Seite der Weichsel wartet die Rote Armee und greift nicht ein. Zu diesem Zeitpunkt kämpft Jerzy Andrzejewski bei den Partisanen, Krystina Usarek ist schon im Konzentrationslager Ravensbrück. Unterstützung erfahren die Warschauer von vielen Juden, auch von Alina Margolis-Edelmann. Sie kämpft mit ihnen gegen die Deutschen.
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