Diese halb weggefressnen Gesichter

Zürich mit Brecht: »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Brecht, Marx, Kapital, Börse, Krise - ein herrlich einladendes Formel-Gefunkel, um das Theater gerade jetzt zu einem Hort der akuten Anklage aufzupulvern. Denn was wäre gegenwärtiger als das, was »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« von Bertolt Brecht auf ihren Wegen ins Wesen der kapitalistischen Ökonomie erlebte.

Also: Schaut, denkt, kämpft! Proletarier aller Länder (oder was davon übrig blieb), vereinigt euch - zur Schlange an der Theaterkasse! Schön, wenn Kunst so wäre? Furchtbar, wenn dieser Traum in Erfüllung ginge. Denn Kunst ist nicht Waffe. War es nie außer in den Reservaten der ideologischen Illusion. »Waffenlos ist der wahre Held, auch wenn er dadurch untergeht« (Bildhauer Werner Stötzer). Untergehen passte nie zum Klassenkampf, und so ging er vorerst unter. Jedenfalls in unseren Breiten (Breiten, klingt manchmal wie Behäbigkeiten).

Brechts blankversgeniales Stück erzählt die traurige Geschichte der Heilsarmistin Johanna, die im Fleischkrieg Chicagos, dem Ort der Börsenspekulationen und darbenden Proletarier, mit Gottesgläubigkeit Frieden stiften und den Fleischkönig Pierpont Mauler bekehren will. Mauler - der beim Vernichten von Konkurrenten und Arbeitsplätzen höchst störend menschlichen Gefühlen ausgesetzt ist, als wären es böse Anfälle; am Ende aber hat er Börse und Stadt im Schwitzkasten.

Gott ist das eine Wort, Johanna sagt es; Klassenkampf ist jenes andere Wort, Brecht sagt es, und im Stück lernt Johanna, genau so wie Brecht zu denken, der konsequent antikapitalistisch dachte. Folgerichtig wechselt Johanna von der Anrührung zum Aufruhr. Und stirbt. Ihr Weg in die Tiefe, aufs Schlachtfeld des Ökonomischen: Sie wollte wissen, wie Kapitalismus funktioniert - sie erfuhr's. Und lernte, wie man an bestimmten Erfahrungen unbedingt zugrunde gehen muss, um Mensch zu bleiben.

Sebastian Baumgarten hat diesen Brecht am Schauspielhaus Zürich inszeniert (Bühne: Thilo Reuther). Er inszenierte, als gebe es Gegenwart nicht. Neuruppiner Bilderbogen schmissig. Oder als träfe Bessons Maskentheater auf Murnaus Stummfilmgespenster. Ein Hauch »Cabaret« auch. Halbmasken gummieren die Gesichter der Bosse, es sind gefühllose Gesichter, es sind, derart dreckig, gar keine Gesichter - Steckbriefe hätten bei diesen Geld-Gaunern mit Cowboy-Hüten keinen Sinn. Derart comic-doof sah der Kapitalismus aus, als ihn die SED-Propaganda in den fünfziger Jahren auf ihre Plakate malte. Plötzlich aber erscheint das so wahr! - was denn, für eine solch entsetzliche Niederlage hat sich der Kapitalismus also hergegeben? Er ist wirklich so, wie das ödeste Parteilehrjahr ihn verbog. Geschichte ist ekelhaft.

Baumgarten weiß, dass die grobe Poesie der Generalstreiks und das Pathos der marxistischen Barrikaden längst fettschichtig Patina trägt. Aber er weiß auch, dass nichts farbloser ist als die daraus folgende moderne Generosität, sich von nichts mehr berühren zu lassen. Er ist ein Künstler im Transit der Weltbilder. Bei Brecht ist der kapitalistische Feind des Humanen noch sehr konkret, sehr fassbar, sehr fleischlich. Aber so was heute noch? Nein. Strukturen und Märkte sind nicht fleischlich. Und Zeigefinger am wenigsten. Baumgarten bricht Brechts Zeigefinger, so, wie man Licht bricht - und ein irritierendes Farbspektrum entsteht.

Den Feind bekämpfen, der die Welt in den Abgrund reißt? Ja, aber wen denn? Heutzutage geht das wahre Wort von der »komplizierter gewordenen Welt« um. Es besänftigt, aber es beruhigt nicht; es beruhigt, aber es erklärt nicht. Und hilft wenig. Kapitalismus pur? Ja, schlimm. Aber das sind wir alle, und wir alle, das ist Diffusität der vielfältigen Verstrickungen, ist also nicht mehr klares Oben und Unten. Jeder Urlaub in der Dritten Welt beutet diese weiter aus - und hilft zugleich den Menschen dort.

Pierpont Mauler, der Fleischkönig (Markus Scheumann), erscheint (und hier ist Baumgarten am bösesten) wie der letztmögliche Prophet der Geschichte: Er weiß genau, wer ihn morgen vernichtet - also sorgt er heute für erschöpfende, aussaugende Arbeit, die den Rebell im schuftenden Menschen betäubt. Soziale Marktwirtschaft: Marktwirtschaft, die mit Konsum jenen Geist tötet, der zur Wahrheit und also zur revolutionären Tat vorstoßen könnte. (Vor der uns die staatliche Gewalt schützen möge - die wir gleichzeitig verachten).

Und Utopien? Als Fernziel des besagten Klassenkampfes? Sie sind mit diesem Kampf in die Krise gekommen. Das Utopische lebt doch längst im Jetzt - im Selbstverständnis der Demokraten, im normativen allgemeinen Bewusstsein und in den Institutionen der Weltgemeinschaft. Der Mensch? Endgültig - so ideologiebefreit - ein geteiltes Wesen. Der die Dinge nicht in einen einzigen Standpunkt bekommt. Der nur zerrissen ein Ganzes ist. Der Ja und Nein zugleich sagen will, der sich mit nichts gemein machen möchte, aber dennoch von Gemeinschaft träumt. In dem trotz belehrtem, stillgelegtem Geschichtsbewusstsein ein Geschichtsunterbewusstsein hämmert. Was es hämmert? Auch Wohlstandssicherung ist asozial. Man möchte zum Pflasterstein greifen, weiß aber, dass es sinnlos ist. Die Reparatur von Schlaglöchern bezahlt der Steuerzahler.

Die Schauspieler dieser Inszenerung: komische Einfalt, aggressiver Schneid, melancholisches Grübeln. Identität spielt keine Rolle mehr im modernen freien Fall der Einzelnen ins große Netz. Revue. Show. Rumor des Unterhaltungsbetriebes. Am Piano galanter Live-Jazz (Jean-Paul Brodbeck) - der in Rammstein übergeht. Der börsenharte Makler Slift (Carolin Conrad) ist Pin-up-Girl, die Proletarierin Luckerniddle (Isabelle Menke) eine dreckdunkle Pennerin. Und Johanna (Yvon Jansen) streckt als Tote die Hand mit Pistole in die Luft: die unheilige Ulrike. Vom Schlachthof zur Meinhof? Alles so traurig wie lächerlich.

Baumgarten siegt über Brechts marxistische Tendenzlust, aber er kapituliert gern vor dessen Sinnsucht. In einer Welt, in der stets weniger Menschheit geschieht, sondern mehr Herrschaft. »Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und/ Es helfen nur Menschen wo Menschen sind.« Amen. Johanna ist tot, es lebe das Theater.

Man kann das Stück freilich weit zügiger inszenieren, bis hinein ins total Kristalline. Mit einem einzigen Satz: »Unser Traum ist eine Welt ohne Armut.« Es ist der Leitspruch der Weltbank.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.