Postdemokratie auf leisen Sohlen

Arno Klönne zum 64. Geburtstag eines zur Verfassung gewordenen Provisoriums

  • Arno Klönne
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 23. Mai 1949 bekam die alte Bundesrepublik so etwas Ähnliches wie eine Verfassung, einen normativen Rahmen für den westlichen deutschen Teilstaat. »Grundgesetz« wurde dieser genannt, weil er - so war es in der Präambel formuliert - nur für eine »Übergangszeit« gelten sollte, bis zur Wiederherstellung staatlicher Einheit. Das Provisorium dauerte sehr viel länger als damals erwartet, und seit dem 3.Oktober 1990 hat
das alte westdeutsche Grundgesetz seinen erweiterten Geltungsbereich; aus der Aufforderung, auf dem Weg in die deutsche Einheit »in freier Selbstbestimmung« eine gesamtdeutsche Verfassung zustandezubringen, ist nichts geworden.

In der Präambel von 1949 war zu lesen, »das deutsche Volk« habe »kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz beschlossen« und damit »auch für jene Deutsche gehandelt, denen mitzuwirken versagt war«. Eine fragwürdige Beschreibung, denn keineswegs waren die Entscheider über das Grundgesetz mit einer Handlungsvollmacht der ostdeutschen Bevölkerung ausgestattet, und auch in Westdeutschland hatte bei diesem Vorgang nicht »das Volk« das Sagen.

Die westlichen Besatzungsmächte hatten der Politik in den Westzonen den Auftrag erteilt, eine Verfassung für den Separatstaat vorzubereiten, dessen Gründung mit der klammheimlich organisierten Währungsreform von 1948 bereits vorentschieden war. Ein Gremium von Experten machte sich dann an die verfassungsrechtliche Arbeit, der »Parlamentarische Rat« (er bestand aus Delegierten der westdeutschen Länder) formulierte die endgültige Fassung, kontrolliert von den Besatzungsmächten, und abgesegnet wurde das Werk von den Länderparlamenten in »Trizonesien«. Bayern verweigerte sich dem Grundgesetz, schloss sich aber dem neuen Bundesstaat an.

Eine Volksdebatte über das Grundgesetz fand nicht statt, einer Volksabstimmung wurde es nicht ausgesetzt, die westlichen Besatzungsmächte und auch die maßgeblichen westdeutschen Politiker hatten kein Vertrauen in die politische Urteilsfähigkeit des Volkes als »Souverän«. Dass eine solche Entstehungsgeschichte «verfassungspatriotische« Gefühle hervorbringen könnte, ist nicht anzunehmen.

Was den Inhalt dieses zunächst nur vorläufig gedachten, größtenteils aber nach wie vor geltenden Normensystems für die staatliche Ordnung angeht, so lässt sich sagen: Unter den skizzierten historischen Umständen hätte es schlechter kommen können. Erfreulicherweise haben im Grundgesetz die Grundrechte und damit politische Freiheiten, die demokratische Staatsform und das Prinzip der Sozialstaatlichkeit Bestandsschutz, normativen jedenfalls; was faktisch daraus wird, hängt von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab, vom »Kampf um Verfassungspositionen», also in letzter Instanz vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger, und das ist nicht auf den Verfassungstag zu terminieren.

In Sachen Politische Ökonomie hat das Grundgesetz Kompromisscharakter. Seine Urheber waren alles andere als Antikapitalisten, aber Ewigkeitswert wollten und konnten sie der Kapitalmacht denn doch nicht zusprechen, und so wurde denn Eigentum auf das »Wohl der Allgemeinheit« verpflichtet und das Recht festgeschrieben, »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft« per Gesetz zu überführen. Diesen Verfassungsartikel übersehen behördliche Verfassungsschützer gern, wenn sie Berichte über linke Umtriebe anfertigen.

In seinen disponiblen Teilen ist das Grundgesetz immer mal wieder umgeschrieben oder neu ausgedeutet worden, nicht unbedingt verbessernd. Ein Beispiel dafür sind die Normen zur Militärpolitik; schrittweise wurde aus dem Auftrag zur Landesverteidigung ein Freibrief für Bundeswehreinsätze out of Area, zur Durchsetzung geowirtschaftlicher Interessen.

Setzt heutzutage allein das Grundgesetz den rechtlichen Rahmen für das politische Handeln des deutschen Staates? Keineswegs, und immer weniger. Im Zuge supranationaler Verflechtung ist eine Fülle von Verträgen und Institutionen ins Spiel gekommen, die normativ wirken, neben der und oft auch konkurrierend zur nationalstaatlichen Verfassung. Das Volk als »Souverän« verliert da leicht den Überblick, was nicht gerade demokratieförderlich ist.

Feierstimmung zum »Verfassungstag«? Dazu besteht kein Grund, historisch nicht und nicht im Blick auf die Gegenwart. Zu empfehlen sind vielmehr Nachdenklichkeit und Bemühen um Aufklärung: Wo überall sind sie zu finden, die politikbestimmenden rechtlichen Normen, wie kommen sie zustande? Und auch: Welche ungeschriebenen Grundgesetze sind es, denen Volkssouveränität sich unterwerfen soll? Die »Postdemokratie« bevorzugt leise Sohlen.

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