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Aufbrechen ohne anzukommen
Marion Jerschowa erzählt Geschichten aus unruhevollen Zeiten
Es sind Geschichten aus einer unruhevollen Zeit, die hier erzählt werden, Episoden aus dem Heute, wie es sich von verschiedenen Punkten unseres Erdballs aus darbietet. Die Handlung spielt in Kroatien, Bosnien, der Slowakei, in New York, den Rocky Mountains, Sibirien und Österreich, der Heimat der Autorin, die von 1967 bis 1978 in Moskau lebte.
Die Orte sind, zeittypisch, zumeist elektronisch vernetzt, was nicht bedeutet, dass die Menschen in ihnen vor Einsamkeit gefeit sind. Viele sind daher irgendwie im Aufbruch begriffen, man könnte es auch Flucht nennen - Flucht vor dem Alleinsein oder umgekehrt - gerade in die Einsamkeit.
Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens gehören nicht gerade zu den bevorzugten Handlungsorten deutschsprachiger Erzähler - wenn man von Peter Handke einmal absieht. Marion Jerschowa indes widmet gleich zwei Texte diesem Thema, das lässt aufmerken. Zuerst geht die Rede von einer Mira, die aus dem vom Krieg heimgesuchten Dalmatien nach Österreich geflohen ist, sich als Putzfrau mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, drei Kinder und einen versoffenen Mann versorgt, bis sie endlich in einem Werk eine richtige Arbeitsstelle findet. Zwar ist sie auch dort nur Reinigungskraft, hat aber einen Vertrag, kann sich endlich etwas kaufen. Doch just in diesem Augenblick verlässt sie ihren sicheren Port, weil sie nicht länger nur wie eine Maschine - so der Titel der Erzählung - funktionieren will, und strebt zurück in ihre alte, karge Heimat, ins Ungewisse.
Die andere Geschichte heißt sehr anspruchsvoll »Vom Krieg und vom Frieden«. Assoziationen an jenen großen Roman der Weltliteratur werden hier jedoch nicht geweckt - es sind vielmehr Momentaufnahmen aus dem kriegerischen Sarajevo und dem friedlichen, aber hektischen New York. Beide Frauen sind im Begriff aufzubrechen - die eine will dem Krieg in ihrer Heimatstadt entkommen, die andere dem Stress in der amerikanischen Großstadt. Die in inneren Monologen dargebotenen Perspektiven der beiden sind einander diametral entgegengesetzt. Noch eine dritte Erzählung handelt in Jugoslawien, allerdings geht es darin nicht um dortige Probleme, sondern um den privaten Konflikt eines Ehepaares.
Sehr zeitgemäß ist zweifelsohne die Erzählung »Schnittstelle Quasigorsk«, weil die handelnden Personen sich nur im Internet begegnen - ein sibirischer Universitätsprofessor trifft auf eine Partnerin im fernen Wien, ihre virtuelle Bekanntschaft resultiert aus einer Fehlleitung im Netz. Die neue Freundin wird dem Mann, dem seine geschiedene Frau arg zusetzt, zur Traumgestalt, zur guten Fee. Diese wiederum, infolge eines Suizidversuchs an den Rollstuhl gefesselt, findet in dem Sibirier einen neuen Lebensinhalt. Den von ihm angekündigten Besuch lehnt sie ab - beteuert jedoch sogleich, dass sie einander sehr brauchen. Ihre Fern-Dialoge gehören zu den schönsten Passagen des Bandes.
Die Autorin erzählt ferner vom Einsturz des World Trade Center, vom Kurbetrieb in einem slowakischen Bad, und zum Schluss eine Parabel, worin sich aktuellste Probleme - Flüchtlinge auf Asylsuche - mit dem Schicksal einer legendären chasarischen Prinzessin aus dem Mittelalter verquicken.
Von Marion Jerschowa, bekannt geworden durch ihren Romanerstling »Honigland-Bitterland« (1990), ihre auch hier rezensierten Werke »Du musst verstehen« (2007) und »Methusalems letzter Wille« (2008), darf noch einiges erwartet werden.
Marion Jerschowa: AufBrüche. Geschichten vom Ende der Gemütlichkeit. Verlag Bibliothek der Provinz. 200 S., br., 18 €.
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