Christus in der Taiga

Jens Mühling lässt uns an seinem »russischen Abenteuer« teilhaben

  • Michael Sollorz
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor gut zehn Jahren traf der Journalist Jens Mühling in Berlin einen Moskauer Fernsehproduzenten, der deutschen Sendern erfundene Russland-Storys andrehte und behauptete: »Die wahren Geschichten sind viel unglaublicher als alles, was ich mir ausdenken könnte.« Die Begegnung veränderte Mühlings Leben. Er lernte Russisch und begab sich von nun an selber auf die Suche nach diesen »wahren Geschichten«. Inzwischen wurde er für seine Reportagen und Essays über Russland mehrfach ausgezeichnet. »Mein russisches Abenteuer« ist eine Reiseerzählung von Format.

Wir erfahren vom Ikonenmaler Komarowskij, den die Revolution verschlang, von den Gebeinen der Zaren-Familie und Rasputins Penis, von einer orthodoxen Einsiedlerin und einer Mutter, die ihren enthaupteten Soldaten-Sohn aus Tschetschenien nach Hause holt. Anders als sein Kollege Wolfgang Büscher, der die Strecke »Berlin-Moskau« zielbewusst zu Fuß bewältigte, lässt sich Mühling auch vom Zufall führen. Kreuz und quer, bis nach Asien recherchiert er, folgt den abstrusesten Spuren und trifft auf Menschen, so robust und leidensfähig, großzügig und widersprüchlich wie ihre Heimat. Er nähert sich ihnen mit Respekt und Neugier. Es sind ihre Schicksale, die sein Buch so spannend, so berührend machen.

Man liest es bereichert, dankbar, mit seinen Augen anzuschauen, was einmal Bruderland genannt wurde. Mühling ist eine ehrliche Haut, verschweigt auch bittere Stunden nicht, die jeder Gast kennt, der sich wirklich einlässt und an Grenzen stößt. Als wieder einmal alles schief geht, nach einem dieser Wodka-Exzesse, schwerst verkatert, kippt seine Sympathie für die Russen in Verdruss: »Ich hasste ihre haltlosen Versprechungen, ich hasste ihre bevormundende Gastfreundschaft, ich hasste ihre Sauferei, ich hasste ihren Kinderglauben an die Macht der Machthaber.«

Jens Mühling wurde 1976 in Siegen geboren. Was versteht der schon von Russland, denkt man vielleicht zunächst, sieht aber bald den Vorzug. Der Autor ist nicht mehr geprägt von den Schablonen des Kalten Krieges. DSF-Kitsch und Gräuelmärchen vom Reich des Bösen kennt er kaum noch. Sein Blick ist erfrischend frei von Vorurteilen, ausgerichtet auf die Brüche in den Biografien von Menschen, die in Sowjetzeiten aufgewachsen sind. Wie finden sie sich heute zurecht? Überall werden Kirchen gebaut. »Grob geschätzt lagen die Lenin-Denkmäler zahlenmäßig noch immer in Führung, aber es zeichnete sich ab, dass sie das Rennen verlieren würden.«

Es gibt eine rührende Schlüsselszene. Tief in der Wildnis schart sich eine ständig wachsende Schar um einen vermeintlich wiedergeborenen Christus. »Alle helfen allen. Niemand fordert etwas, niemand hat Schulden, und alle haben genug zum Leben. Ist das nicht wunderbar?«, schwärmt Ruslan, ein junger Informatiker, Abkömmling tatarischer Muslime. Dort in der Siedlung traf er seine Frau Lisa, Kind sowjetischer Atheisten, und sie beschlossen zu bleiben, um ein besseres Leben zu führen. Mühling ist von diesen Menschen tief beeindruckt, und bevor ihm am nächsten Tag ein Kommune-Plenum das schöne Hoffen auf irdische Maße stutzt, steht er schlaflos auf einem Hügel über der Siedlung. Dort, in der nächtlichen Taiga, unter den funkelnden Sternen, streift den jungen Westdeutschen die Ahnung, dass vielleicht Lenin und die Christen etwas im Wesen sehr Verwandtes anstrebten: »den Durchbruch in eine neue Ära, die Gründung einer brüderlichen Gemeinschaft, ohne Fesseln, ohne Ausbeutung, ohne Geld«.

Dass er uns diesen Augenblick der Betörung nicht vorenthält, spricht ebenfalls für die Redlichkeit des Autors. Mühling räumt ein, sich selbst »wie ein hoffnungsloser Zyniker gefühlt« zu haben, und das schlafende Paar, das ihn herzlich aufgenommen hat, erscheint ihm in seiner jugendlichen Opferbereitschaft »wie die Komsomolzen der kommunistischen Pionierjahre, die im jungfräulichen Sibirien unter klimatischen Extrembedingungen das Paradies auf Erden bauten. Sie waren die neuen Menschen, die gegen alle menschliche Erfahrung ihren Traum verwirklichen würden.«

Jens Mühling: Mein russisches Abenteuer. Dumont, 350 S., geb., 19,99 €.

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