Erbe der Pinochet-Diktatur wirkt nach

Gustavo Ruz zur Bewegung für eine Verfassunggebende Versammlung in Chile

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Gustavo Ruz ist Soziologe und war zur Regierungszeit Salvador Allendes (bis 1973) Generalsekretär der Sozialistischen Jugend. Mit den traditionellen Parteien hat Ruz gebrochen. Bei der Präsidentenwahl im November kandidiert er für die Bewegung für eine Verfassunggebende Versammlung. Mit ihm sprach in Berlin Harald Neuber.

nd: Sie setzten sich für eine Verfassunggebende Versammlung ein. Ist Chile in schlechter Verfassung?
Ruz: Die Bewegung für die Verfassunggebende Versammlung entstand 2007. Daran waren verschiedene politische, soziale und kulturelle Bewegungen beteiligt. Sie alle eint die Erkenntnis, dass Chiles Verfassung von Grund auf illegitim ist, weil sie von vier Generälen geschrieben wurde.

Sie meinen die Anführer des Putsches 1973, die Generäle Augusto Pinochet, César Mendoza, José Merino und Gustavo Leigh.
Diese Generäle haben das Schicksal der Verfassung an sich gerissen und spätestens mit der neuen Konstitution 1980 ein wirtschaftliches Modell durchgesetzt, das maßgeblich auf ausländischem Großkapital fußt. Die Rechte der Bürger wurden völlig ausgeklammert. Ebenso die gewerkschaftlichen Rechte, die in 50 Jahren erkämpft worden waren.

Welche Auswirkungen hat dieses Regelwerk der Diktatur heute?
Trotz einer Reform unter Präsident Ricardo Lagos 2005 unterbindet die Verfassung, dass der Staat in wirtschaftliche Belange interveniert. Um ein staatliches Unternehmen zu gründen, benötigt die Regierung ein Quorum von vier Siebteln der Abgeordneten. Die Hürde ist so hoch, dass am Ende alles in den Händen des privaten Kapitals bleibt, einschließlich der elementarsten Belange der Bürger.

Die ist also das letzte Erbe der Pinochet-Diktatur?
Das Absurde ist, dass diese Verfassung während der Herrschaft Pinochets im Grunde gar nicht angewandt wurde, weil er bis zum Ende aufgrund von Notstandsgesetzen regierte. Erst nach seinem Abtritt 1990 wurde sie angewandt.

Die Verfassung der Diktatur trat nach der Diktatur in Kraft?
Der historische Hintergrund ist wichtig: Pinochet sollte die Interessen des Großkapitals sichern. Die USA waren dabei vor allem am chilenischen Kupfer interessiert, das ja schon vor dem Putsch mit der Nationalisierung 1971 zum Politikum geworden war. Als Washington aber auf die Privatisierung der Kupfervorkommen Chiles drängte, verweigerten das die Juntageneräle aus einer nationalistischen Haltung heraus. In der Folge entzogen die USA Pinochet die Unterstützung und halfen den bürgerlichen Diktaturgegnern. Beim Referendum über eine weitere Amtszeit des Diktators im Oktober 1988 hatten wir, die wir uns für das Nein einsetzten, die Unterstützung der USA. Als Pinochet aber von der Staatsspitze entfernt war, drängten die gleichen Kräfte darauf, die Hürden für eine Änderung der Verfassung in Abgeordnetenkammer und Senat zu erhöhen. So sollte verhindert werden, dass eine zivile Regierung die wirtschaftlichen Grundsätze der Diktatur verändert. Deswegen wird nach dem gleichzeitig erlassenen Wahlrecht in jedem Wahlkreis ein Kandidat der Rechten und ein Kandidat des Parteibündnisses Concertación bestimmt. Es ist also unmöglich, in beiden Kammern des Kongresses das Quorum für substanzielle Veränderungen zu erreichen. So hat die Diktatur das Ende der diktatorischen Herrschaft der Generäle überlebt.

Aber die Militärherrschaft ist doch beendet und eine Aufarbeitung hat eingesetzt!
Die Diktatur der Militärs hat mit den Wahlen 1989 ein Ende gefunden, aber die Diktatur des Großkapitals begann damals im Grunde erst. Zugleich hat die Armee ihre Privilegien bewahrt und ihre Machtposition faktisch ausgebaut. Chiles Wirtschaft wurde in einem unglaublichen Maße für ausländisches Großkapital geöffnet. Das wäre unter der nationalistischen Junta gar nicht möglich gewesen. Unter Pinochet wurden acht Prozent des Kupfers ausländischen Konzernen überlassen. Von 1990 bis 2010 waren es 62 Prozent.

Nicht wenige verweisen auf die makroökonomischen Erfolge Chiles. Ist der wirtschaftliche Erfolg denn nichts wert?
Das Wort Wachstum ist trügerisch, weil oft pauschal vom Bruttoinlandsprodukt ausgegangen wird. Der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Ein virtuelles Pro-Kopf-Einkommen sagt gar nichts aus.

Sie haben sich für die Bewegung für eine Verfassunggebende Versammlung zur Wahl aufstellen lassen, mit wenig Chancen auf das Präsidentenamt. Weshalb diese Kandidatur?
Entschuldigen Sie den Pragmatismus, aber die Sache sieht so aus: Im Kampf um eine demokratische Verfassung haben wir unzählige Treffen und Versammlungen in Chile und mit Chilenen im Ausland organisiert - über eine Million leben außerhalb des Landes. Wir haben auf diese Weise seit 2007 rund 20 000 Menschen erreicht. Das chilenische Gesetz gesteht nun jedem Präsidentschaftskandidaten Zugang zu den Medien zu. Dazu kommt das Interesse der Printmedien. Die Kampagne erlaubt uns potenziell, 13 Millionen Wähler zu erreichen. Deswegen haben wir uns dafür entschieden.

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