Verwandelt Selbsthilfegruppen in Kampfgruppen!
Der Böseste ist der Beste: Georg Schramm im Deutschen Theater Berlin
Da ist er wieder, Lothar Dombrowski - Zentralgestirn des Sonnenlos-Systems von Georg Schramm. Alles kreist hier um Deutschland, ein finsterer Raum. Universum zwischen Schrebergartenanlage »Kriegsopfer Bockenheim« und Selbsthilfegruppe »Altern heißt nicht trauern« - die Dombrowski als Vorsitzender kommandiert. Mit Handglocke und gewohnt bösem Blick. Strenge ist nötig, gegen die unablässigen Beifalls- und Lachsalven des Publikums, das dem aufgepulverten Dombrowski rabiat in Gedanken und Nebensätze einfällt, als wäre hier ein Schlussverkauf.
Und Strenge ist vor allem nötig, um einen Verein, der »nach Streuselkuchen im Heim riecht«, in eine »Kampfgruppe« umzuwandeln, die »als Störfaktor an vorderste Front zieht«. Im Krieg »Reich gegen Arm«, in dem die Banken »finanzielle Massenvernichtungswaffen« einsetzen. Daher, so Dombrowski, müsse der Zorn wieder zur obersten Kultur werden. Der Zorn, Europas erstes Wort, das die Eingangsverse der »Ilias« adelt. Zettelkramen. Hier, noch ein Papstwort, aus dem 6. Jahrhundert: Die Vernunft könne sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, »wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht«. Das müsse sich die Selbsthilfegruppe auf den Wimpel sticken. Im Kampf »gegen die Kernenergie des Bösen: die Habgier«. Die sei freilich unausrottbar, denn nicht der Besitz sei ihr Motor, sondern der Erwerb - Erwerb ist nur ein Moment, der also dauernd wiederholt werden muss. Immer wieder bei Schramm: Wenige Sätze, und ein Betriebsgeheimnis ist enthüllt.
»Meister Yodas Ende« heißt das Programm, mit dem der Kabarettist im restlos ausverkauften Deutschen Theater Berlin gastierte. Ein Parcoursritt durch reifere Menschenzustände zwischen Verdämmern und Verzweifeln. Da liegt einer Wochen tot in der Wohnung, die Familie merkt's nicht, »Mann, da fehlt doch plötzlich ein Zimmer - und selbst wenn›s ein Krüppel war, den lässt man doch nicht verschimmeln.‹« Talkshows siedelt Dombrowski in der Nähe von »emotionalen Pissrinnen« an, mit den Klofrauen Illner, Maischberger - von Klofrauen ist es nur ein kurzer Weg zu Jauch. Aber auch gute Nachrichten hört man: Für »Omma« gibt’s jetzt die Drei-Liter-Windel, »da hat man das ganze Wochenende Ruhe«.
Mit dabei an diesem Abend auch wieder der alte breiig-gemütliche SPDler, der einst die Protestgruppe »Sozialdemokraten in der SPD« gründete und stolz meldete: »Seit letzter Woche sind wir zu dritt«. Im Garten - dort, wo die Sonne zuerst über die Autobahn lugt - schießt er mit den Luftgewehr gern auf die »Bild«-Titelseite. Wenn er schon nicht auf Ackermann schießen kann, »nee, nicht quälen, nur wegputzen!« Man müsste einen Auftragskiller engagieren. 1000 Euro? »Hm, Monatsrente. Aber für gute Zwecke muss man auch mal kürzer treten.«
Den Gastvortrag bei der Selbsthilfegruppe hält Oberleutnant Sanftleben, schneidig, dann besoffen, silbenverschluckend; er spricht über fremden und eigenen Blutfluss im Krieg sowie über den Unsinn der Formel vom »feigen Hinterhalt«, dann, wenn deutsche Soldaten getötet werden. »Soll sich der Taliban denn vors Gebüsch stellen und schießen?!« Har, har, har. Es sei im Übrigen wichtig, dass Deutsche in Afghanistan blieben: So lange müsse man nicht zugeben, dass der Krieg verloren sei.
Dombrowski ist pikiert, fühlt sich belästigt von Eitelkeiten beim Offizier und von stutziger Larmoyanz bei seinen Senioren. Nichts für ihn, den Rumor-Rentner. Der Kriegsversehrte mit dem schwarzen Handschuh, als hätte sich Zorro in der Maske geirrt. Zuchtmeister des unbarmherzigen Weltblicks. Gernegroß-König der privaten Rebellion. Er ist funkelnde Düsternis, wütende Klarheit. O Gegenwartsbruder: armselig ohnmächtig im Aufklärungsdienst.
Herrlich, die Erinnerung an die Senioren-Aktion im übervölkerten Supermarkt: den alten Kameraden mit der kranken Lunge vor die Fleischtheke gestellt, Husten mit Auswurf, dann der Satz: »Das kriegt er immer, wenn wo was mit dem Fleisch nicht in Ordnung ist.« So muss sie organisiert werden: die Subversivität. Rentner, raus zur Demo! Stuttgart 21 lehrt: Bei Alten wirkt eine polizeiliche Resthemmung - es wird nicht gleich zugeschlagen, das muss ausgenutzt werden.
Am Gipfelpunkt von Dombrowskis Rasereien wird immer auch die Erschütterung eines Menschen sichtbar, der doch nur eine Maske trägt, und die Maskenhülle ist plötzlich als Gesichtshaut spürbar. Und wenn dann alles Leben auf einen kleinen roten Klappstuhl niedersinkt oder hinterm Schreibtisch hockt wie hinter einer unbeholfen aufgerichteten Barrikade, dann scheint da Schramm selber zu leiden: elender Hokuspokus, den die Wahrheit vollführen muss, um gehört zu werden; elende Kürze der Zeit, in der Erkenntnis wirken darf. Der Kabarettist wie einer, der sich in den Theaterkäfig hineinsehnte, aber sich an den Gittern und Stangen des Käfigs auch wundrieb.
Schramms Kunst besteht darin, tragische Schicksalskomiker der deutschen Misere auf die Bühne zu stellen - Misere, die darin besteht, dass die Leidenschaft des Bürgers dort besonders stark ist, wo er tut, was er gar nicht will. Und weil der Mensch den Glauben braucht, glaubt er am ehesten die Lügen. Ohne den Charakter seiner Figuren je zu verlassen, ist Schramm neben Hagen Rether der Radikalste, dem es im bösen Witz sehr, sehr ernst ist. Und der so sehr Ernst machen möchte mit der Empörung. Und dem ein Fakt wichtiger ist als eine Pointe, eine gefundene Wirtschaftszahl toller, irrwitziger als ein erfundener Gag. Dieser großartige Darsteller hat einen rigorosen Mut zur geradezu hämmernden Analyse des Zeitgeschehens, eine Schöpferkraft, analog des Mottos von Bildhauer Alfred Hrdlicka: »Mir fällt nichts ein, mir fällt was auf.« Und natürlich fällt Schramm dazu sehr viel ein.
Er ist so seit Langem auf dem Weg des besonderen Kassandrischen: Er sagt nicht voraus - er sagt, was ist. Und wurde so vom Kabarettisten zum Ankläger. Jetzt: eine bittere Erzählung darüber, wie die Demenz über Dombrowski kommen könnte, und wie dickleibigste Ratgeberbücher eine einzige, nämlich die wichtigste Frage nie beantworten: Wie merkt man selber, dass es soweit ist? Das ist sie, die Gesellschaft: Du wirst vom Erkenntnisprozess über deine eigene Lage ausgeschlossen. Dann schnell ab in die Psychiatrie, hurtig die Verabreichung von »Stimmungsaufhellern« (»Stimmungsaufheller! Ausgerechnet ich!«), dann das Memory-Turnier, »mit zehn Karten-Paaren, für Fortgeschrittene«.
Nein, Dombrowski wird dieses Schicksal rechtzeitig zu verhindern wissen - er redet nun tief besorgt über dieses »rechtzeitig«. Viele Alte verpassen den letzten Zeitpunkt ihrer Würdewahrung, diesen selbst gewählten Abschied von der Welt. Weil sie hoffen. Hoffnung, die eigentliche Krankheit. Und leider, so Dombrowski, liege auf der Entscheidung, sich selbst einzuschläfern (und geschähe es auch rechtzeitig), ein Fluch: Sie setze kein politisches Zeichen. Sie ist Rückzug. Wenn man wenigstens einen mitnehmen könnte - »aber wie lange hält Hans-Olaf Henkel still, wenn ich versuche, ihn öffentlich einzuschläfern?«
Georg Schramm spielt an diesem Abend nicht irgendwo, sondern im Deutschen Theater Berlin, und es ist, als schauten sie aus der Bühnengasse auf dieses Erbarmungsbild aus Tisch, zwei Stühlen, einem Kleiderständer und als fühlten sie sich in diesem hellsichtig hilflosen Dombrowski erkannt und beim Herz genommen: alle Gestalten der Bühne, die leben und leiden, weil sie sich aus dem Dunkel der Verkennung lösen wollen - das Geräusch der einstürzenden Wände im Ohr, da sie hinaustreten in ihr ureigenes Wesen. Getrieben vom Eingeständnis ihrer Not, nicht schweigen zu können.
So schlägt der Alte um sich - und bettelt damit um Liebe. Und wenn schon Selbstmord, dann nur ICE, nie Regionalzüge, die sind so langsam, »da wirste nur zur Seite geschoben.« Aber Dombrowski wird weitermachen. Zu viel kostbares Gift im Blut, als dass man es vergösse. Zu viel Galle im Körper, um ihn schon abzumelden. Mit Worten wirken - so, wie Meister Yoda aus »Star Wars« die Gedankenkraft zur Waffe erhob. Auch wenn der grammatikalisch »wie Sau« sprach und nur ein Zwerg war. Na ja, Vorsicht sowieso mit mythischem Anhauch, der die Welt übersteht - im Menschen kommt alles an sein unweigerliches Ende.
In diesem Programm kann man nur an falschen Stellen lachen; es gibt ja nichts zu lachen - was das Lachen nur berauschend steigert. Das Lachen wird uns vergehen, oder es wird uns nachgehen: als ein Klirren zwischen den Zähnen Lothar Dombrowskis.
Georg Schramm, der demnächst seine Laufbahn als Kabarett-Kämpfer, sein Leben in Soloprogrammen beenden wird, er verabschiedet sich mit Willkommenshoffnung: »Vielleicht sehen wir uns irgendwann, irgendwo wieder - auf der Straße!« Geht der Kabarettist, der Kämpfer bleibt.
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