Wenn Konflikte gefrieren
Beobachtungen und Gespräche an den Grenzen Abchasiens und Südossetiens
Kaxa Dzvelaia, seine Frau Ia und die beiden Töchter Nino und Tamta warten darauf, mit dem Pferdewagen ans andere Flussufer gebracht zu werden. Hier an der Enguri-Brücke befindet sich einer von vier zivilen Übergängen an der »administrativen Grenzlinie« zwischen Georgien und Abchasien. Die Familie Dzvelaia lebt derzeit noch getrennt - der Vater auf abchasischer Seite, Frau und Töchter in Georgien. Gerade kommt die Familie für ein paar Tage zu Besuch. Die Verhältnisse sollen sich aber bald ändern. »Ich möchte das Haus in Abchasien veräußern, aber es findet sich kein Käufer«, erzählt Kaxa Dvelaia. Das Leben in Georgien sei günstiger, zudem seien die Zukunftschancen dort ganz einfach besser.
»Wir sollen uns nicht provozieren lassen«
Abchasien hatte sich 1991 im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion von Georgien losgesagt. Schon 1992/93 wütete ein blutiger Krieg, der 250 000 Georgier aus Abchasien zur Flucht trieb. 2008, als Georgien und Russland um Südossetien, die andere abtrünnige Provinz, einen Kurzkrieg führten, tobten zwar um Abchasien keine ausgedehnten Kämpfe, doch einzelne Zusammenstöße mit Todesopfern gab es, zeitweilig drangen russische Einheiten auch ins georgische Kernland ein. Danach anerkannte Russland Abchasien und Südossetien als unabhängig, vier weitere Staaten folgten. Für die übrige Staatenwelt gehören Abchasien und Südossetien nach wie vor zu Georgien. Deren Grenzregime steht indes unter Kontrolle der Schutzmacht Russland.
Im Norden ist die abchasische Grenze aufgrund der Topografie schwer zugänglich. Mit den vier kontrollierten Übergängen und einem im Ausbau befindlichen System aus Dämmen und Gräben gelingt es abchasischen und russischen Grenzern immer besser, den Grenzverkehr im Südteil zu kanalisieren. So kommt es auch immer seltener zu Vorfällen, zu unerlaubten Übertritten. Keiner der anderen Übergänge wird so häufig genutzt wie die Brücke über den Enguri (russ. Inguri). In Khurchia, wo eine baufällige kleine Fußgängerbrücke steht, geht bei unserem Besuch kein Mensch auf die abchasische Seite, an manchen Tagen gibt es nur zwei Passanten. Anders, wenn die Renten in Georgien ausgezahlt werden: Da sei ein Kommen und Gehen, erzählt eine Frau, die in der Imbissbude an der Brücke arbeitet. In Orsantia wiederum zähle man täglich 50 bis 70 Personen, sagt ein georgischer Polizist, der an einem getarnten Posten in der Nähe steht: »Wir haben hier keine Vorkommnisse. Und wenn etwas passiert, sind wir angehalten, uns nicht einzumischen und provozieren zu lassen.«
Nicht nur, aber auch weil die Russen auf der anderen Seite die Ruhe bewahren, kommt es an der abchasischen wie an der südossetischen Grenze nicht zu bewaffneten Auseinandersetzungen. 2009 bereits zogen UNO und OSZE ihre Beobachtermissionen ab. Als einzige internationale Institution ist die EU vor Ort. Die European Union Monitoring Mission (EUMM) mit 200 unbewaffneten Beobachtern darf die »administrative Grenzlinie« nur von der georgischen Seite aus kontrollieren. Das georgische Militär und die Polizei sind an der Grenze zu Südossetien nur leicht bewaffnet. Sie verhalten sich unauffällig. Ohnehin darf das georgische Militär nur in Bataillonsstärke (500 Mann) unweit der Grenze stationiert sein. Die EUMM kontrolliert das. In erster Linie obliegt es ihr aber, die Grenzlinie zu beobachten und für Vertrauen bei der Bevölkerung zu sorgen, die tagtäglich mit den schwierigen Verhältnissen konfrontiert ist.
Die Grenzanlagen auf der südossetischen Seite werden seit einigen Monaten von den russischen Truppen massiv ausgebaut. »Allein in diesem Jahr wurde rund die Hälfte der bestehenden Befestigungen errichtet«, erklärt Florentin Dumitru Dicu, Vizechef des EUMM-Postens in Gori.
Kühe fragen nicht nach dem Grenzverlauf
Auf mittlerweile 25 Kilometern wurden Stacheldraht, Zäune oder andere Schutzvorrichtungen installiert. Zchinwali, Südossetiens Hauptstadt und 2008 Zentrum der Kämpfe zwischen russischen und georgischen Einheiten, wird besonders stark gesichert. Ein Blick durch den Feldstecher bestätigt die Existenz eines neuen Damms, von Zäunen und Überwachungskameras südlich der Stadt, deren Grenze dort zugleich die Grenzlinie zu Georgien bildet. Noch immer sind Gebäude mit großen Einschusslöchern zu sehen. Am Nordrand Zchinwalis befindet sich der russische Armeestützpunkt. In Südossetien wie in Abchasien sollen je 3500 russische Soldaten stationiert sein. 2011 wurden Verträge mit einer Laufzeit von 49 Jahren für den Betrieb der Armeestützpunkte geschlossen.
Der Ausbau der Grenzbefestigungen, die straffe Organisation des Grenzverkehrs, aber auch die zunehmende Integration der Flüchtlinge in Georgien bewirken, dass vollendete Tatsachen geschaffen werden. Die Konflikte frieren zusehends ein. Verhandlungen von Diplomaten, die »Genfer Gespräche«, haben nicht zu zählbaren Ergebnissen geführt. Auch wenn in der Realität schon praktiziert, hat man sich noch nicht einmal auf den Verzicht auf Waffengewalt geeinigt. Georgien besteht auf seiner territorialen Integrität, Russland auf der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens.
Dort, wo die faktische Grenze im Grünen verläuft, kommt es nach südossetisch-russischer Wahrnehmung immer wieder zu »illegalen« Grenzübertritten. Sergej Kolbin, Generalmajor und Vizechef der Grenzbehörden in Südossetien, bestätigte gegenüber der Webseite osinform eine starke Zunahme solcher Vorfälle. Allein 100 Personen wurden dieses Jahr schon festgenommen. »Alle Festgenommenen werden zum KGB Südossetiens gebracht. Dann legen wir fest, ob sie administrativ oder strafrechtlich belangt werden«, sagte Kolbin. Bei den Festgenommenen handelt es sich bisweilen um georgische Bauern, die ihr Vieh, das die grüne Grenze überschritten hat, zurückholen wollen. Oft werden diese Leute mehrere Tage in Zchinwali festgehalten und nur gegen ein Entgelt von 2000 bis 5000 Rubel - zwischen 80 und 200 Euro - wieder freigelassen.
Die Grenzlinie beeinträchtigt das tägliche Leben der Zivilbevölkerung erheblich. Die EUMM-Beobachter wissen das. Landwirtschaftlich genutzte Felder und Wiesen werden von der Grenze zerschnitten. Auch kommt es vor, dass Bewässerungsleitungen gekappt werden. Fälle wie das kleine Dorf Dvani, wo der Grenzzaun um 30 Meter auf südossetisches Gebiet zurückversetzt wurde, um einem georgischen Bauern die Bewirtschaftung seines Landes zu ermöglichen, sind Ausnahmen. Privater Grenzverkehr ist hier, anders als zu Abchasien, fast inexistent.
Der russisch-georgische Krieg 2008 tobte vor allem in und um Südossetien. Etwa 850 Personen starben in den Gefechten. Der Krieg sorgte auch für die bisher letzte größere Flüchtlingswelle: Etwa 30 000 Personen flohen ins georgische Kernland, so wie Jahre zuvor die 250 000 aus Abchasien. Erst seit einigen Jahren widmet Georgiens Regierung den Flüchtlingen größere Aufmerksamkeit, bestätigt Tina Gewis vom Norwegischen Flüchtlingsrat, der seit 1994 in Georgien tätig ist. »Bis 2003 existierte diesbezüglich fast nichts, da die Strukturen dafür fehlten. Schlecht ging es allen Georgiern, nicht nur den Flüchtlingen.« Aber die Geflohenen seien auch als politische Karte gegen Russland benutzt worden. Mit der Überführung der Unterkünfte in den privaten Besitz der Flüchtlinge habe sich deren Integration langsam, aber spürbar verbessert. Nach dem Krieg 2008 habe die internationale Staatengemeinschaft schnell reagiert, zwischen Tbilissi und Gori und in dessen Umgebung wurden große Flüchtlingssiedlungen aus dem Boden gestampft. Dennoch: Viele dieser Siedlungen liegen abseits der alten Dörfer, die sanitäre Versorgung lässt zu wünschen übrig. Tina Gewis weist deshalb darauf hin, dass die Qualität der Unterkünfte wichtiger sei als die Besitzverhältnisse.
Wasser fließt für Flüchtlinge nur sporadisch
In einer solchen Siedlung außerhalb Goris lebt Galina Kelekhsaeva mit Mann, Tochter und Enkelkindern. Sie stammt aus einem Dorf in der Nähe von Zchinwali. Als es zu Bombardierungen kam, floh die Familie. Ihr Haus wurde im Krieg niedergebrannt. Zunächst einige Monate in Tbilissi untergebracht, bezogen die Kelekhsaevs schon Anfang 2009 ihre jetzige Unterkunft. »Anfangs hatten wir jedoch kein Wasser, keinen Strom, keine sanitären Anlagen«, erzählt Galina. Auch jetzt fließt das Wasser nur sporadisch, manchmal ist es salzig und für den Selbstversorgergarten ungeeignet. Vor dem Krieg Lehrerin, ist sie jetzt arbeitslos wie ihr Mann, früher Bauer. Vom Staat fühlen sie sich etwas vergessen. Nur Organisationen wie das »Humanitäre Wohltätigkeitszentrum Abhkazeti« gewähren beispielsweise zinslose Darlehen und unterstützen die Flüchtlinge dabei, eigene Kleinstunternehmen zu betreiben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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