»Autonomie ohne Erlaubnis«
Zapatistas feiern in Chiapas zehn Jahre Selbstverwaltung
Auch stundenlanger tropischer Regen konnte die Freude kaum trüben. Tausende Zapatistas und hunderte Aktivisten aus dem In- und Ausland feierten in Oventik den zehnten Jahrestag der zapatistischen Autonomie im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Oventik, einer von fünf Hauptorten der Bewegung war gut vorbereitet: Zahlreiche Stände, die Getränke, Essen, Kunsthandwerk, CDs mit revolutionärer Musik, Zeitschriften und vieles mehr feilboten, säumten die zentrale Straße des Ortes. Es wurde geredet, zugehört, getanzt und es wurden viele neue Kontakte geknüpft. Wie immer war es eine alkohol- und drogenfreie Fiesta, da die zapatistischen Frauen schon 1993 ein Verbot von Rauschmitteln durchsetzen konnten. Auch in den weiteren Hauptorten La Realidad, La Garrucha, Morelia und Roberto Barrios wurde der Aufbau der Autonomie gefeiert, die den Menschen trotz großer Mühen spürbare Fortschritte vor allem in den Bereichen Bildung und Gesundheit gebracht hat.
Die mehrere hunderttausend Menschen umfassende Bewegung um die linksgerichtete Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) hatte sich 1994 militant gegen Diskriminierung, Ausbeutung und die Benachteiligung der Frauen erhoben.
1996 unterzeichneten die EZLN und die Regierung die Abkommen von San Andrés über indigene Autonomie. Damit wurde den über 60 indigenen Bevölkerungsgruppen Mexikos - über zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung - eine weitgehende Selbstbestimmung in Bereichen wie Landrechte, Verwaltung, Bildung, Gesundheit, Medien, Rechtsprechung und Ressourcennutzung eingeräumt. Die Regierung setzte die Abkommen nie um, obwohl sie internationale Verträge zugunsten der indigenen Rechte unterzeichnet hat. Auch Verfassungsbeschwerden scheiterten. Hintergrund sind die Interessen von Konzernen an Bodenschätzen, biologischer Vielfalt sowie an Staudamm- und Tourismusprojekten auf den indigenen Ländereien.
Die EZLN entschied sich, ab August 2003 ihre Autonomie ohne juristische Erlaubnis auf überregionaler Ebene zu praktizieren und gründete die »Räte der Guten Regierung«. Seitdem werden die rebellischen Territorien selbst verwaltet. Die Staatsstruktur wurde auf den Kopf gestellt: Dutzende zapatistische Dörfer bilden einen autonomen Landkreis, mehrere Kreise eine rebellische Zone, von denen es insgesamt fünf gibt. In fünf Verwaltungs- und Logistikzentren, den »caracoles« (zu deutsch Schneckenhäusern), arbeiten fünf »Räte der Guten Regierung«, die wie die meisten amtstragenden Gremien alle drei Jahre neu bestimmt werden.
Alle Personen, die eine Funktion übernehmen, können jederzeit von der Basis abgesetzt werden. Dies ist der radikaldemokratische Charakter der zapatistischen Bewegung. Die Gebiete unter Kontrolle der EZLN gehören heute zu den sichersten Orten Mexikos. Viele Nicht-Zapatistas suchen Schiedssprüche bei den zapatistischen Institutionen oder besuchen die Gesundheitshäuser der EZLN, weil die indigenen Frauen hier keine Angst haben müssen, gegen ihr Wissen bei der Entbindung zwangssterilisiert zu werden.
Eine zapatistische Vertreterin des »Rates der Guten Regierung« von Oventik kritisierte in der zentralen Ansprache des Festes scharf die seit Ende 2012 amtierende Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI). Sein Armutsbekämpfungsprogramm »Kreuzzug gegen den Hunger« sei in Wirklichkeit eine Strategie, um die Menschen in Chiapas mit Almosen aus dem Widerstand herauszukaufen und die Bewegung zu zerschlagen. Zudem sei die Regierung für zahllose Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte und geduldete Paramilitärs verantwortlich.
Die EZLN-Sprecherin räumte auch eigene Fehler ein: »Es gibt noch viel zu lernen, um unsere Arbeiten zu verbessern, für ein Leben, das gerechter, würdiger und humaner ist«. Gleichzeitig betonte die Rednerin die Hoffnung auf Verbesserung: »Wir glauben weiterhin, dass eine bessere Welt möglich ist, eine Welt, in der viele Welten Platz haben.«
Das Kommuniqué vom 9. August schließt mit den Worten: »Es ist wichtig, unsere Rebellionen, unsere Kämpfe und unsere Stimmen zu einem ›Ya Basta!‹ (Es reicht!, Red.) zu vereinen. Unser Kampf wird erfolgreich sein.«
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