Nachgetragene Liebe

Peter Schneider hat über die Beziehungen seiner Mutter geschrieben

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 2 Min.

Es werden noch manche Kreuzwege kommen, und eines Tages werden wir fallen wie das Laub von den Bäumen, und ein Duft von Schwere und Süße wird zurückbleiben von denen, die liebten.»

Eine verheiratete Frau, Mutter von vier Kindern, die solche Gedanken voller Schwermut und «Vorahnung von Vergeblichkeit» (Peter Schneider) an ihren Geliebten schreibt, ist ein außergewöhnliches Wesen, stark und zerbrechlich, liebes- und todessüchtig, fordernd und rücksichtslos gegen sich selbst.

Das Buch enthält ganze Passagen ähnlicher Sätze, die sich zu Exaltiertheit oder tiefer Trauer steigern können. Preisgegebene Leidenschaft - dies mag den Autor bewogen haben, erst Jahrzehnte nach dem frühen Tod der Mutter ein Buch über ihre «Lieben» zu schreiben.

Wohl ganz bewusst haben alle und alles darin einen Namen, der Ehemann Heinrich, der Geliebte Andreas, das bayrische Dorf Grainau unter der Zugspitze, in dem die Mutter mit den Kindern jahrelang lebt, ja selbst die Berge und Waldstücke ringsum, auch die Nachbarskinder, sogar die Häuser des Ortes - nur eben den Namen der Mutter erfährt man nicht. Aber das wird einem, wenn überhaupt, erst am Ende bewusst.

Peter Schneider unternimmt einen Balanceakt zwischen Authentizität und eigenen romanhaften Erinnerungen. Ein Karton mit Briefen der Mutter hat jahrzehntelang fest verschlossen in einem Schrank gelegen. Nun holt er sie hervor, liest und «entziffert» mit dem mühevollen Entziffern der Sütterlinschrift zugleich das Wesen dieser Frau, die seine Mutter war. Jedenfalls versucht er es.

Er liest von einer offen gelebten Dreierbeziehung. In Königsberg begann dieses Drama, wo die Ehefrau des Dirigenten Heinrich den genialen Opernregisseur Andreas kennenlernte und sich unsterblich in ihn verliebte. Lebenslang wird diese Leidenschaft dauern. Aber auch Heinrich und Andreas werden und bleiben Freunde. In den letzten Kriegsjahren muss die Mutter in ein bayrische Dorf fliehen. Dort verbringt der Autor mit seinen Geschwistern die Kinderjahre.

Anschaulich schildert Peter Schneider die bedrückende Dorfwelt in dunkler Zeit, während der er selbst - darin der Mutter ähnlich - in einen Sog der Abhängigkeit von dem älteren Willy gerät.

Am liebsten läse man das ganze Buch als Roman. Aber ein Roman ist es nicht. Über die Schilderung des Geschehens hinaus stellt es indirekt Fragen nach Toleranz und ihrer Grenzen. Aber es ist vor allem das Buch einer nachgetragenen Liebe.

Peter Schneider: Die Lieben meiner Mutter. Kiepenheuer & Witsch. 296 S., geb., 19,99 €.

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