Der Mut der »Kleinen Wanda«

Waldtraut Lewins »Geschichte der Juden«

  • Christel Berger
  • Lesedauer: 5 Min.

Wichtige Passagen des Buches verweigern normales Reflexionsverhalten des Kritikers, hat sich doch Waldtraut Lewin an schier Unmögliches gewagt. Innerhalb vieler Etappen historischer Entwicklung behandelt die Mitte des Buches das Unfassbare. Lewin zitiert Celan: »Sie, die Sprache, blieb unverloren ... Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten ... Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ›angereichert‹ von all dem.« Es gibt »nach Auschwitz« wieder Bücher, es gibt sie auch darüber.

Verfolgte der erste, 2012 erschienene Band, das Schicksal der Juden von der Zeit der Legenden bis zum Ausgang des Mittelalters, umfasste über 700 Seiten und war eine Fundgrube an Fakten, Geschichten und Schicksalen - der zweite Teil ist nicht minder dick, nicht minder spannend, aber dennoch eine noch größere Leistung, galt es doch, kaum Verkraftbares in Worte und Geschichten zu fassen, für Unfassbares eine Erzählform zu finden, in ein Vorher und Nachher zu stellen. Nun also Geschehnisse seit dem Dreißigjährigen Krieg bis in die Gegenwart eines nur wenige Tage zählenden Libanon-Feldzugs, der wiederum Teil eines mehr als dreißig Jahre währenden Konflikts ist. Hat die Menschheit nichts gelernt?

Zurück zum Buch: Wieder gibt es drei Erzählebenen: die Mitteilung der historischen Fakten, deren Kommentierung und szenische Miniaturen, in denen besondere historische Momente bzw. Einzelschicksale »nachempfunden« werden. Schließlich hat das Ganze eine Schriftstellerin geschrieben, die auf Phantasie und Ausmalung nicht verzichten will.

Hatte sie mir im ersten Teil meist relativ Unbekanntes aus der reichen Geschichte der Juden erschlossen - etwa die ganz frühen Siege und Niederlagen, die Bar-Kochba-Episode oder das Wirken Josel von Rosheims, erwartete ich diesmal mehr allgemein Bekanntes zu finden, und Namen wie Moses Mendelssohn, Joseph Süß Oppenheimer, bekannt als Jud Süß, Theodor Herzl, Alfred Dreyfus, Walther Rathenau, Albert Einstein, Anne Frank, Herbert Baum, Golda Meir, David Ben Gurion, Menachem Begin, Jizchak Rabin bestätigen das auch vordergründig.

Diese Aufzählung, die man ergänzen kann mit den Rothschilds, Karl Marx, Arnold Schönberg und, und ... zeigt zugleich die große Bedeutung von Juden für die Weltgeschichte. Ebenso groß ist die Zahl derer, die die Autorin wieder der Beinahe-Vergessenheit entzieht: Sabbatai Zwi, Elieser Ben Jehuda, Mickey Stone, Israel Ben Elieser, Marek Edelmann, Louis Lewin ...

Nicht nur, dass Waldtraut Lewin die Begebenheiten um die historischen Persönlichkeiten beschreibt, sie erfindet Erlebnisse Namenloser und - dies vor allem - sie bringt all »ihre Leute« mit den großen Fragen in Zusammenhang: Wann und warum gab es für die Juden Möglichkeiten freier Entfaltung? Wie eingeschränkt wurden die an sich fortschrittlicher werdenden Gesetze befolgt? Was bedeutet in der Neuzeit Assimilation? Was hat sie gebracht? Was hat die Rassentheorie mit Religionen zu tun? Warum haben sich so viele Juden in der NS-Zeit nicht gewehrt? Warum haben so viele Leute weggeschaut? Warum war der Eichmann-Prozess so spät?

Natürlich ist die Massenvernichtung im 20. Jahrhundert das besondere Ereignis in der langen Geschichte dieses leidgeprüften Volkes. Sie hatte einen Vorlauf, den die Autorin schildert, und sie hatte ein Nachher, das sowohl in Europa als auch in Amerika seine schwarzen Seiten hatte. Es ist erstaunlich, mit welcher Sachlichkeit Waldtraut Lewin, eine »Davongekommene«, von der Katastrophe berichtet. Sie bekennt, dass selbst ihr beim Korrekturlesen die Lektüre des eigenen Textes schwer gefallen ist. Das, was da passiert ist - die Organisation der Ghettos und Lager, die Transportarten und die Verleugnung der Tatsachen zu lesen - so komprimiert und so genau im Detail der Fakten, ist ein Kraftakt. Waldtraut Lewin hat es verstanden, Unfassbares in klaren Worten und einer Sprache zu sagen, die niemals nur den Hauch einer Entschuldigung oder Leugnung zulässt. Die Balance zwischen Fakten und Emotionen ist gelungen. Nichts ist verzeihbar, nichts darf vergessen werden. »Der Wind trägt die Worte.« Winde werden immer wehen ...

»Es wird andere Ansichten geben. Ich stehe zu meinen«, bekennt Waldtraut Lewin, und das dürfte sich vor allem auf den letzten Teil des Buches, die Entwicklungen in Israel beziehen. Dass in diesem Staat von Beginn an die Widersprüche programmiert waren und viele - nicht nur Israelis - sich mitschuldig gemacht haben an neuen Kriegen und einem ewig scheinenden Unfrieden, machen die angeführten Fakten deutlich. Dass es Gegenbeispiele, Versuche eines Miteinanders, wenn auch nur in einem Orchester, gibt, freut die Autorin und lässt sie, ohne an einfache und schnelle Lösungen zu glauben, hoffen. Die Hoffnung, das liest man mehrfach am Beispiel der Schicksale der Ihren im Buch, stirbt zuletzt.

Das Buch ist umso erstaunlicher, weil hier eine Schriftstellerin es gewagt hat, was sich ganze Scharen von Historikern, Religions- und Politikwissenschaftlern wegen der immensen Schwierigkeiten nicht trauten. Als Autorin historischer Romane hat Lewin immer leidenschaftlich und gekonnt recherchiert. Wie viel es diesmal zu leisten gab, das hat sie sich vor Beginn des Unternehmens nicht träumen lassen. Sie hat sich nicht gescheut, ganze Bibliotheken zu »durchforsten« und hat die Spezialisten beim Wort genommen. Ihre Zitate oder Zusammenfassungen verraten die Fachfrau, die die Autoritäten zwar kennt und ernst nimmt, aber dennoch ihre Meinung dazugibt.

Dieses »Eigene« verrät sich nicht nur im eigenen Stil, in dem das Erzählen immer wieder die Fakten ergänzt und ausmalt, es kommt auch in der Freude zum Ausdruck, wenn sie in der Geschichte der Juden auf besonders aufregende Frauengestalten - etwa Donna Gracia oder Glückel von Hameln, Clara Immerwahr oder »Die kleine Wanda« aus dem Warschauer Ghetto gestoßen ist. Sprachliches Gestalten interessiert sie besonders, und da sind es natürlich jüdische Witze oder das neu Konstruierte im Hebräischen, worüber sie begeistert ist. Vorrangig für Jugendliche geschrieben, ist dies ein Buch ebenso für Erwachsene, in eigener Sprache verfasst, frei von Abschweifungen und Verklausuliertem. Schade, dass es kein Personenregister gibt, aber dann hätten die »Wälzer« jedes Maß verloren.

Respekt und Bewunderung!

Waldtraut Lewin: Der Wind trägt die Worte. Geschichte und Geschichten der Juden. Zweites Buch. Von der Neuzeit bis zur Gegenwart. cbj. 720 S., geb., 24,99 €.

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