Die richtigen Worte finden

Deutscher Bundespräsident besucht französische Gedenkstätte Oradour sur Glane

  • Susanne Götze, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.
In der Gedenkstätte des schrecklichsten SS-Massakers in Frankreich war jahrzehntelang kein Staatsvertreter erwünscht. Opfer und Angehörige warfen dem deutschen und französischen Staat gleichermaßen Versagen bei der Verfolgung der Täter vor. Dort soll nun Joachim Gauck als erster deutscher Bundespräsident die richtigen Worte finden.

Oradour-sur-Glane ist ein beschauliches Dorf in Südwestfrankreich, 25 Kilometer nördlich der Stadt Limoges. Doch nur wenige Meter neben dem ländlichen Alltag stehen die Ruinen des alten Oradour-sur-Glane und erinnern an seine schreckliche Geschichte. Am 10. Juni 1944 wurde hier eines der größten Massaker der Waffen-SS in Frankreich begangen: Rund 200 Soldaten einer SS-Panzer-Division kamen in das Dorf, trieben die Menschen zusammen und töteten schließlich alle 642 Einwohner, darunter über 400 Frauen und Kinder.

Dann wurde das Dorf fast vollständig zerstört. Heute kann man die Ruinen des einstigen Dorfes als Gedenkstätte begehen und in die zerstörten Häuser schauen. Liegen gelassene Nähmaschinen und alte Autowracks erinnern an das einstige Leben vor dem Massenmord.

Am Mittwoch wird Joachim Gauck zusammen mit dem französischen Präsidenten François Hollande als erstes deutsches Staatsoberhaupt die Gedenkstätte von Oradour-sur-Glane besuchen. Einer der fünf Überlebenden des Massakers, der 87-jährige Robert Hébras, wird die beiden Staatsoberhäupter begleiten. Bislang standen vor allem die Normandie als Landungsort der Alliierten oder Gedenkstätten des Ersten Weltkrieges wie Verdun wiederholt im Vordergrund des Gedenkens.

Die Geschichte von Oradour-sur-Glane zeigt, dass Gauck sich hier keinen leichten Besuch vorgenommen hat. Sicherlich ist der Ansatz lobenswert, im Jahr der deutsch-französischen Aussöhnung - dem Jubiläum des Élysée-Vertrages - auch in Gedenkstätten schöne Worte zu finden. Sie aber reichen hier nicht aus. Denn in Oradour-sur-Glane ist die Stimmung bis heute aufgeladen, die Geschichte nicht abgeschlossen. Wut und Empörung gegen Justiz und Staat sind noch lange nicht abgeklungen.

Die mahnenden Ruinen des alten Oradour-sur-Glane bekamen erst 1999 eine eigene Gedenkstätte und wurden dann zu einem der am meisten besuchten Erinnerungsorte Frankreichs.

Nach den Prozessen gegen die Täter in den 50er Jahren hatten die Opferverbände aus Protest gegen die Amnestie der Verurteilten ihr eigenes Denkmal errichtet. Jahrzehntelang wehrten sie sich gegen französischen und deutschen Staatsbesuch. Weder die deutsche noch die französische Seite hat sich wirklich um die Verfolgung und eine angemessene Verurteilung der Täter gekümmert. Diese Enttäuschung sitzt bei vielen Angehörigen und Gemeindemitgliedern bis heute tief.

Deshalb ist es fraglich, ob Gauck mit seinen üblicherweise »weichgespülten« Reden hier den richtigen Nerv trifft. Vor einigen Monaten erst hielt Gauck im italienischen Ort Sant’Anna di Stazzema eine Rede. Dort fanden bei einem SS-Massaker mindestens 400 Menschen den Tod, Das Geschehen wurde auch nur lückenhaft aufgeklärt und lange totgeschwiegen, bis es nach 1990 endlich zu Prozessen kam. Gauck erklärte dort, dass es unser Empfinden für Gerechtigkeit tief verletze, »wenn Täter nicht überführt werden können, wenn Täter nicht bestraft werden können, weil die Instrumente des Rechtsstaates dieses nun einmal nicht zulassen«. Dann, so Gauck weiter, »stehen wir als Bürger mit unserer Empörung und unserer Moral vor einem Rechtsgebäude und glauben, dass alles richtig ist - und trotzdem ist unser moralisches Empfinden nicht beruhigt.«

Das »moralische Empfinden« der Opfer von Oradour wurde jedenfalls nicht nur beunruhigt, sondern es wurde einfach ignoriert und der Zorn der Überlebenden war jahrzehntelang grenzenlos. Denn ebenso wie in Sant’Anna di Stazzema kamen auch hier die Täter fast alle ungeschoren davon. Die SS-Mitglieder, die man Anfang der 50er Jahre zu fassen bekam, wurden 1953 in Bordeaux vor Gericht gestellt. 21 Täter der 200 wurden letztlich verurteilt, 14 von ihnen waren aus dem Elsass.

Ein Amnestiegesetz, das »zufällig« eine Woche nach dem Urteil erlassen wurde, sprach die Elsässer als Angehörige des französischen Staates frei. Ob die Elsässer freiwillig zur SS gingen oder gezwungen wurden, ob sie das Massaker mitmachen mussten oder aus nationalsozialistischer Überzeugung auf ihre eigenen Landsleute schossen - all das ist bis heute hart umstritten. Deshalb hat sich zwischen den Leuten aus dem Limousin, in Oradour-sur-Glane, und den Elsässern regelrechter Hass aufgestaut.

Doch auch den deutschen SS-Männern passierte nicht viel. Sie wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, jedoch bald schon wieder entlassen. Viele der deutschen Täter waren zudem auf Veranlassung des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer (CDU) erst gar nicht ausgeliefert und die Urteile nicht anerkannt worden. Nur die DDR verurteilte den SS-Obersturmführer Heinz Barth 1983 zu lebenslänglicher Haft.

Erst vor zwei Jahren haben die Opfer jedoch wieder Hoffnung geschöpft, als die Ermittlungen gegen sechs noch lebende Angehörige der Waffen-SS aufgenommen wurden. Einer von ihnen ist jedoch dieses Jahr bereits verstorben.

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