Ein kompliziertes Verhältnis

Thomas Seibert über die Linke als Bewegungspartei und die Regeln sozialer Bewegungen

  • Thomas Seibert
  • Lesedauer: 6 Min.

Lange Zeit wurden Fragen nach dem Verhältnis von Partei und Bewegung in klaren Antworten still gestellt. Einerseits verwiesen sozialdemokratische wie marxistisch-leninistische Parteilinke Bewegungen sogar dann auf den zweiten Platz, wenn sie ihnen vorübergehend den Vortritt ließen, um Blockaden der »richtigen«, d.h. der Partei- und Staatspolitik aufzubrechen. Andererseits reduzierten Bewegungslinke »ihre« Parteien stets auf deren Beteiligung am Staat und schrieben sie deshalb bald als »erweiterten Staatsapparat« ab. Emanzipation sollte allein auf Straßen, Plätzen und im Alltagsleben erreicht werden; was sich davon abhob, war höchstens taktisch von Interesse.

Kann man in grober Durchsicht des 20. Jahrhunderts sagen, dass die Parteilinken eher Unrecht und die Bewegungslinken eher Recht hatten, gehört zu den ersten Errungenschaften des 21. Jahrhunderts, dass diese Bilanz die Fronten eher geöffnet als verhärtet hat. Teilt sich die Linke nach wie vor in Partei- und Bewegungslinke, hat die Zahl derer zugenommen, die ihre jeweils andere Seite strategisch mitdenken. Deshalb ist der gegenseitige Austausch so vertrauensvoll wie nie zuvor. So weit, so gut.

»Ein Angebot, das wir nicht ablehnen können«

So lautet die Überschrift eines Wahlaufrufs, mit dem kritische Wissenschaftler, engagierte Künstler und Vertreter von sozialen Bewegungen zur Stimmabgabe für die LINKE in Hessen mobilisieren: Vor allem während der Blockupy-Proteste 2013 habe die Linkspartei »bewiesen, dass sie sich als gleichberechtigter Teil der gesellschaftlichen Linken versteht«, heißt es in dem Text.

Zu den Erstunterzeichnern gehören neben Thomas Seibert auch die Autoren Dietmar Dath, Alex Demirovic, Werner Rätz und Raul Zelik.
wahlaufrufhessen.de

Zum Thema »Die LINKE und die Linke - eine Hassliebe?« debattieren der Schriftsteller Raul Zelik, der Linksparteivorsitzende Bernd Riexinger und der Bewegungsaktivist Martin Schmalzbauer am Samstag, 14. September um 19.30 Uhr in Berlin-Kreuzberg: Allmende, Kottbusser Damm 26-28, HH, 4. OG.

Parteien in Gründung

Möglich wurde das auch und vor allem deshalb, weil beide nicht mehr dieselben sind. Schon 1968 differenzierte sich die Alte Soziale (Arbeiter-)Bewegung in die Neuen Sozialen Bewegungen aus. Nach 1999 eröffneten die globalisierungskritischen Bewegungen eine neue Sequenz. Seit 2010 schreiten vom Arabischen Frühling inspirierte Bewegungen an vielen Orten der Welt von der Behauptung der Möglichkeit einer anderen Welt zu Erkundungen des Übergangs fort. Begleitet wird die weltweite Neu- und Umgruppierung sozialer Bewegung von der Neu- und Umgründung linker Parteien, die jetzt nicht mehr »Kader-« oder »Massen-«, sondern »Bewegungspartei« werden wollen. Lieferte Italiens Partito Rifondazione Comunista Europa dafür ein erstes, bald gescheitertes Modell, ruhen aktuell große Erwartungen auf der griechischen SYRIZA. Die deutsche LINKE hat dabei mit der besonderen Last zu kämpfen, Teil des Staates zu sein, der seine imperiale Macht über die EU mit mehrheitlicher Zustimmung seines Staatsvolks ausübt.

Wohl auch deshalb liegt das Konzept Bewegungspartei in zwei konkurrierenden Versionen vor. In der ersten soll die Partei in der vordersten Linie der sozialen Kämpfe stehen, dort als radikalisierende Kraft wirken und deshalb Abstand zum Staat und zu den Mitte-Links-Parteien wahren. Die zweite Version weist der Bewegungspartei umgekehrt die Aufgabe zu, die Kämpfe in gesellschaftliche Milieus zu vermitteln, die von ihrer Dynamik (noch) nicht erfasst sind. Dem entspricht, dass sie, wenn auch begrenzt, Kontakt zur linken Mitte suchen soll. Fasst man beide Varianten nach der ihnen einwohnenden Gefahr, droht der einen die ML-, der anderen die sozialdemokratische Regression.

Doppelstrategien

Infolge der grundlegenden Schwäche der Partei- wie der Bewegungslinken wurden Bewegungsparteien - sieht man von Rifondazione ab - noch nicht ernsthaft auf die Probe gestellt. Solange das so ist, bleiben sie »Partei in Gründung«. Das klingt banal, liefert aber zwei praktische Hinweise. Der erste verpflichtet die Bewegungen dazu, der Partei bis auf Weiteres Kredit zu geben und ihr deshalb auch Stimmen zu leihen: zuerst am 22. September. Der zweite verpflichtet die Partei auf aktive Teilnahme an der Bewegung: nicht notwendig in vorderster Linie, doch hör- und sichtbar.

Sieht man von subjektiven Unzulänglichkeiten ab, gründet die Gefahr des Rückfalls in alte Gewohnheiten ebenso in der Form der Partei wie in der Form sozialer Bewegung. Bewegungen sind eine Sache gesellschaftlicher Minderheiten und werden nur gelegentlich - im Moment des Ereignisses, während der Versammlung auf dem Tahrirplatz - zur Sache der Meisten. Kaum ist das geschehen, bröckelt der Aufbruch aus dem Staat. Zur Aufspeicherung der Bewegungs- und Ereigniserfahrung kommt es nur insoweit, als diejenigen, die zur Normalität und also in den Staat zurückkehren, nicht mehr ganz dieselben sind, die sie vorher waren. Diesem Unterschied muss die Linke Dauer und Tiefe verleihen: die Partei so, dass sie ihn in den Staat und die »Mitte« der Gesellschaft trägt, die Bewegung so, dass sie von den Rändern her immer neu die Konfrontation sucht.

Keine ganz neue Einsicht? Sprachen die Jusos nicht bis in die 1980er von einer Partei und Bewegung verbindenden »Doppelstrategie«, und sollte die Partei bei den Grünen nicht nur das »Spielbein« der Bewegungen sein? Das Konzept Bewegungspartei enthält hier zwei Neuerungen. Zum ersten wird die Doppelstrategie als unauflöslich konfliktiv gedacht: Partei und Bewegung kämpfen zwar für gleiche Ziele, kämpfen dabei aber je nach eigener Logik und deshalb immer auch gegeneinander. Der zweite Unterschied betrifft die Dimension des Politischen, die heute nur noch transnational sein kann.

Strategische Modelle

Kämpfe der jüngsten Zeit liefern dazu Modelle strategischen Weiterdenkens. Das erste ist der Juni-Bewegung Brasiliens zu verdanken. Interessanterweise ging es ihr weder um den Sturz der nominell linken Regierung, noch um eine Alternative zur Partido dos Trabalhadores: sie war reif genug, um zu wissen, dass eine andere Regierung und eine andere Partei kaum mehr zu bieten hätten. Deshalb stellte sie, wie es Alain Badiou nennt, Partei und Regierung kraft der eigenen Autonomie unter eine »politische Direktive«. Sind PT und Rousseff-Regierung vital genug, diese Direktive zu verstehen? Treten sie ernsthaft in Kommunikation? Nehmen sie die »Demokratie der Plätze« zum Anlass, um populare Forderungen gegen den Staat, gegen starke gesellschaftliche Kräfte und gegen die eigene Korruption durchzusetzen? Wie immer dieser Konflikt endet: er macht deutlich, dass die Konfliktivität von Bewegung und Bewegungspartei ein wirklicher Kampf innerhalb eines Projekts der Transformation ist, das nur durch diesen Kampf ein gemeinsames Projekt wird.

Wird die griechische SYRIZA, was nicht auszuschließen ist, demnächst tatsächlich Bewegungs- und Regierungspartei, kann sie Bezugspunkt eines zweiten Modells werden. Was kann eine Partei in einem Staat tun, der mit und ohne Euro nichts zu versprechen hat? Im Konjunktiv gesprochen: Die Regierung könnte in der EU bleiben, um sich der Troika noch dort zu widersetzen, wo sie sich der imperialen Macht fügen muss. Im selben Zug könnte die Partei den Staat einer »Demokratie der Plätze« öffnen, deren »Demos« die sozialen Bewegungen des eigenen Landes wie der umliegenden Länder wäre. Statt den Nationalstaat »regulär« zu verwalten, könnte SYRIZA ein doppeltes Spiel spielen, das der EU eine politische Krise ungewissen Ausgangs aufzwänge. Dieses Spiel folgte allerdings nicht nur den Regeln der Partei, sondern zugleich und auf Dauer den Regelverstößen sozialer Bewegung.

First Exit Blockupy

Erstes Ziel der 2012 aufgebrochenen Blockupy-Bewegung ist die »Eingemeindung« Frankfurts in den transnationalen Widerstand gegen das EU-Krisenregime. Für die Bewegungslinke war und ist das schon deshalb zwingend, weil die Troika-Politik hier nicht nur von CDUCSUFDPSPDGrünen, sondern auch von einer staatsbürgerlichen Mehrheit getragen wird. Die Proteste haben gezeigt, dass die Minderheiten auf der Straße nicht ganz allein sind, sondern Zuspruch in Milieus finden, die selbst nicht auf der Straße waren, sich zumindest im größeren Teil dort auch nicht einfinden werden. Sichtbar wurde das nur, weil Blockupy die Konfrontation ausdrücklich wollte: was der Staat unmittelbar verstanden hat.

Die LINKE hat sich in den Blockupy-Protesten als Bewegungspartei bewährt. Die Bewegung wird ihre Politik der Konfrontation fortsetzen, im Maß des Aufruhrs im Süden auch zuspitzen. Soll das weiter und womöglich stärker noch auch in Milieus verstanden werden, die die Konfrontation selbst (noch) nicht suchen, braucht die Bewegung eine Partei, die diese Vermittlung leistet: als Partei. Damit das möglich wird, muss sie auch in den Staat gehen, im Fall der Linkspartei zunächst einmal in die Parlamente und in die Widersprüche der Parteienpolitik. Nach Lage der Dinge ein Angebot, das die Bewegung nicht ablehnen kann.

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