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Wie wählen Migranten?

Wahlkampf in Deutschland aus türkischer Sicht

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 4 Min.

Sowohl die Migrantenvereine und Dachverbände, als auch die türkischsprachigen Zeitungen in ihren Europaausgaben rufen zur Teilnahme an den Wahlen auf, vermeiden jedoch sorgsam Wahlempfehlungen. Ohne dass nachvollziehbar ist, woher die Zahl stammt, wird behauptet, dass sich nur 30 Prozent von Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund an der Wahl beteiligen werden. Dass die Wahlbeteiligung von Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund geringer ist, als die Wahlbeteiligung von Deutschen ohne Migrationshintergrund, ist noch nachvollziehbar. Dass sie jedoch nur bei 30 Prozent liegen soll, kann getrost bezweifelt werden. Letztendlich ist jedoch nicht die Differenz wichtig. Jede Aktion, das Interesse an Politik und die Teilnahme an ihr zu steigern, ist wichtig. Es gibt jedoch drei kritische Punkte an den Aufrufen zur Teilnahme an den Wahlen dieser Migranten-Lobbyisten.

Erstens: Die Wahlen und die Wahlbeteiligung werden als das Allheilmittel gegen jegliche Probleme dargestellt. Dies zeigte sich unter anderem in der Tageszeitung Hürriyet. Zitat aus der Ausgabe vom 3. September: »Ich bin Opfer von Brandanschlägen, ich bin Mordopfer, ich werde als Minderheit wahrgenommen und diskriminiert. Wenn Sie das denken, dann haben Sie die Möglichkeit, ihre Gedanken und Sorgen loszuwerden: an der Wahlurne.«

In diesen Worten erkennt man Agitation und eine Haltung, als ob mit der Wahlbeteiligung alle Probleme gelöst werden und ein »neues Leben« beginnen würde... Die Realität ist selbstverständlich anders. Wahlen und Wahlbeteiligung sind insofern sehr wichtig, als dass sie eine Möglichkeit bieten, seine Meinung kund zu tun, gewissen Dingen gegenüber Sensibilität zu zeigen. Man weiß aber auch, dass keine Partei, die durch Wahlen an die Macht gekommen ist, etwas wirklich Wichtiges verändert hat. Aus diesem Grund ist ein wichtiger Teil der Bevölkerung davon überzeugt, dass mit Parteienwechsel keine Probleme gelöst werden können.

Zweitens: In vielen Aufrufen wird der Standpunkt vertreten »Geh wählen, egal wem du deine Stimme gibst.« Aus diesem Grund werden auch keine Wahlempfehlungen ausgesprochen. Die WählerInnen sollen sich aber entscheiden, wohin sie ihr Kreuz setzten. Daher ist die reine Wahlbeteiligung keine ausreichend politische Entscheidung, gleichzeitig ist wichtig, wie und warum man sich für eine bestimmte Stelle für das Kreuzchen entscheidet. Ein Großteil von Deutschen mit Migrationshintergrund sind mit Problemen wie Arbeitslosigkeit, schlecht bezahlten Jobs, ungleichen Bildungschancen für Kinder oder Armut konfrontiert. Folglich sind sie interessiert an Parteien, die Sozialpolitik machen, die Chancengleichheit für Kinder mit Migrationshintergrund fordern und eine klare antirassistische Haltung zeigen.

Diese Themen werden von vielen Organisationen in allgemeinen Appellen angesprochen. Aber konkret werden sie nicht, obwohl doch die Wahlprogramme der Parteien leicht miteinander verglichen werden können. Vielen kommt es jedoch nicht gelegen, sie zu vergleichen und eine Wahlempfehlung abzugeben. Denn viel mehr als kurz- und mittelfristigen Interessen der WählerInnen, sind diese Organisationen auf eigene ideologische Interessen fixiert. Jeder, ob Privatperson oder Organisation, der Hand aufs Herz legt und die reinen Wahlprogramme vergleicht, müsste erkennen, dass das Wahlprogramm der Partei DIE LINKE am konkretesten und den Interessen der MigrantInnen am nächsten ist. Die Partei lehnt nicht nur eine »einseitige Integration« ab, sondern fordert die »beiderseitige Partizipation«.

Drittens: Ein weiteres wichtiges Argument, das immer wieder ins Feld geführt wird, ist das der »Machtdemonstration«. Die folgenden Worte aus der Kampagne des Vorsitzenden der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), Süleyman Celik, zeigt diese Haltung: »In Deutschland leben von uns … drei Millionen Menschen, 80 000 Arbeitgeber, die 350 000 Menschen Jobs bieten und einen gemeinsamen Umsatz von fast 35 Milliarden Euro haben. Wenn wir diese Menschen und diese Kraft in die Politik kanalisieren können, hat sie eine Bedeutung und zeigt eine Macht. In dem wir an den Wahlen am 22. September teilnehmen, sollten wir unsere Kraft sichtbar machen.« (www.haydisandikbasina.de)

Dieser Traum wird schon seit langem geträumt. Dass er jedoch unrealistisch und nicht möglich ist, wollen die Herrschaften nicht einsehen. So, wie in der Türkei nicht alle Türken eine Partei wählen, werden auch die Türken in Deutschland nicht alle die gleiche Partei wählen. Sie werden nicht als »Block« agieren. Jedes Individuum wird je nach Klassenzugehörigkeit oder Weltanschauung wählen. Daher ist der Traum, aus der »türkischen Bevölkerung« eine »einheitliche Machtdemonstration« herausholen zu wollen, eben ein unrealistischer Traum.

Wenn denn eine »einheitliche Machtdemonstration« möglich und nötig ist, dann die, dass sowohl Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund gemeinsam gegen Rassismus, Diskriminierung und arbeiterfeindliche Politik gemeinsam auf die Straße und an die Wahlurne gehen.

Unser Autor ist Deutschland-Korrespondent der türkischen Zeitung »Evrensel«

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