Empfindsamkeitstante? Nein.
Dokumentaristin des Hässlichen. Die Gesammelten Erzählungen von Gisela Elsner
D ie Irre mit der Kleopatra-Perücke, die Alkohol- und Tablettensüchtige, die verrückt gewordene Kommunistin, die Frau mit dem bösen Blick, die Antibürgerliche aus großbürgerlichem Elternhaus, die ihren »Flirt mit Lenin« nicht beenden kann. Das sind nur einige der Klischees, denen man begegnet, wenn heute von der Schriftstellerin Gisela Elsner die Rede ist, die sich 1992 das Leben genommen hat. Es geht dann um ihr gern als schrill und grotesk beschriebenes Äußeres, ihre psychische Verfassung zu Lebzeiten, weniger aber um ihr literarisches Werk, das seit einigen Jahren neu aufgelegt wird, nachdem es über ein Jahrzehnt lang von den Verlagen und Medien vollständig ignoriert worden ist. In den 90er Jahren musste man sich ihre Romane mühsam aus den Grabbelkisten der Antiquariate zusammensuchen. 1994 stellte der Schriftsteller Hermann Kinder fest: »Gisela Elsner ist einfach tot und weg.«
Auch in den Filmen des Regisseurs Oskar Roehler (»Die Unberührbare«, »Quellen des Lebens«), ihres Sohnes, wird sie heute bevorzugt als schwierige und selbstsüchtige Zicke porträtiert, wobei ihre Literatur, deren Wahrheitsgehalt und präzise satirische Figurenzeichnung im Licht der Gegenwart täglich heller erstrahlen, schlicht unterschlagen wird.
In Zeitungsartikeln wurde Elsner wiederholt als eine Art hasserfüllte linke Hexe porträtiert, nur weil man es nicht verwinden kann, dass sie in ihrem Werk immer wieder das (west-)deutsche Bürger- und Kleinbürgertum als das verkniffene, in seinem autoritären Wesen stark von der NS-Zeit geprägte, heuchlerische und sich permanent verstellende Pack porträtiert hat, das es war bzw. ist.
Ein paar reiche Deutsche missbrauchen während ihres Urlaubs in einem afrikanischen Land Einheimische als lebende »Schattenspender«. Eine Frau ist gezwungen, bei sich zuhause in der heimischen Küche eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Ein älteres Ehepaar muss nach einer Mieterhöhung umziehen in eine triste Vorstadtsiedlung. Eine gelangweilte Kulturbetriebsfunktionärsgattin wird zur fanatischen Hobbytöpferin.
Man kann diese Erzählungsbände aufschlagen, wo man will: Immer wird auch unsere Gegenwart erkennbar in der überwiegend in den 70er und 80er Jahren entstandenen Kurzprosa, weil die darin beschriebenen bundesrepublikanischen Alltagspathologien und die Obsessionen des Kleinbürgers seit Elsners Freitod dieselben geblieben sind.
Die Themen ihrer Erzählungen sind heute aktueller denn je: der Rassismus, die Arbeitslosigkeit, die Verelendung eines Teils der Bevölkerung, die Totalisierung der staatlichen Überwachung, die Gentrifizierung, der Esoterik- und »Ganzheitlichkeits«-Markt als Tummelplatz eines gelangweilten Bürgertums, der moderne, »kreative« Unternehmer (der seinen Angestellten erfolgreich einredet, er sei um ihr Wohlergehen besorgt und sie glauben macht, sie seien eine »Familie«, eine »Corporate Identity«, ein kommunitaristisches Kollektiv, sie aber selbstverständlich weiter ausbeutet), das selbstgerechte Öko-Bürgertum (das einst friedensbewegt war und heute Interventionskriege befürwortet und zu Wohlstand gekommen ist).
Doch die Themen allein machen nicht die Kunst. Die Form ist entscheidend: Elsners Erzählstrategie setzte, anders als die Literatur vieler ihrer schreibenden Zeitgenossen, nie auf die Identifikation des Lesers, auf das warme Wohlgefühl, das bei ihm entsteht, wenn er gemeinsam mit der Autorin mit dem Finger urteilend auf die vermeintlich Bösen zeigen kann. In ihren Erzählungen sind alle gleich erbärmlich.
Mitte der 60er Jahre wurde Gisela Elsner als junge Frau vom linksliberalen Literaturbetrieb Westdeutschlands noch als eine Art Wunderkind gefeiert. Ihre seinerzeit noch mit experimentellen Erzählformen spielende Prosa hatte nichts von dem Geschmack von »Lindenblütentee und denaturiertem Zwieback«, der etwa dem Schriftsteller und Übersetzer Carl Weissner in den Sinn kam, wenn er an die Literatur der Gruppe 47 dachte, an deren Tagungen Elsner gelegentlich teilnahm. Ihren vom »nouveau roman« und den literarischen Experimenten der frühen 60er Jahre angeregten Stil entwickelte die Autorin im Lauf der Jahrzehnte zu einem kalten, bitteren Sozialrealismus weiter, der mit sarkastischem Blick die Scheinheiligkeiten und Idiotien der Deutschen bloßstellte, des sogenannten kleinen Mannes ebenso wie des Fabrikanten oder der kulturbeflissenen Linksliberalen.
Was Elsner verfasste, entsprach nicht dem Zeitgeschmack, nicht der herrschenden literarischen Mode in der Bundesrepublik. Denn sie schrieb weder die Sorte protestantisch-sozialdemokratisch-moralisierende Literatur, die bei deutschen Lesern so beliebt ist, noch den drögen Befindlichkeits- und Seelenerkundungskitsch, der in den 70er und frühen 80er Jahren in seiner gruseligsten Ausprägung als sogenannte »Neue Innerlichkeit« oder gar »Frauenliteratur« sein Unwesen trieb und sich stapelweise verkaufte. Im Gegenteil: Elsner, deren Spott ebenso den alltäglichen Heucheleien des verbliebenen Nazi-Personals in der Bundesrepublik wie »den gottesdienstähnlichen Ritualen und Symbolen« einer sich für links haltenden Friedensbewegung galt, wie die Herausgeberin Christine Künzel in ihrem Nachwort schreibt, war eine Dokumentaristin des Hässlichen. Verschont wurden dabei auch nicht jene unvermeidlichen Mahner, Warner, Ostermarschierer und allzeit bereiten »Unterschriftsteller«, die sich auf der moralisch richtigen Seite wähnten. Über den seine eigene fortschrittliche Gesinnung wie eine Monstranz vor sich hertragenden, linksengagierten Soziologieprofessor Rüsenberg heißt es etwa, dass er »tagtäglich ein Quantum an Progressivität ausspie, das andere nicht einmal im Lauf eines Jahres aus sich herauszuholen vermochten. Rüsenberg produzierte Progressivität wie Schnecken den Schleim, auf dem sie sich voranbewegten.«
In Elsners Erzählungen gibt es keine Heldinnen oder Helden, in ihrem Stil findet man keine falsche Sentimentalität und keine Nestwärme. Die wenigsten wollten derlei lesen in einer Zeit, in der zur moralischen Erbauung dienliche Betrachtungen den literarischen Zeitgeschmack der Verlagslektoren und der Bundesbürger trafen und von schreibenden Frauen »Verständigungs-« und »Selbsterfahrungstexte« erwartet wurden, in denen sie ihre vermeintliche »Empfindsamkeit« zur Schau stellen sollten. Kein guter Markt für die »bedeutendste Satirikerin der Bundesrepublik Deutschland« (Christiane Künzel).
Gisela Elsner: Versuche, die Wirklichkeit zu bewältigen / Zerreißproben. Gesammelte Erzählungen in zwei Bänden. Hrsg. von Christine Künzel. Verbrecher-Verlag, Berlin 2013, 266 und 222 Seiten, je 15 Euro.
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