Wortes Macht? Machtwort

Zum Tode des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Er war grandios und grässlich. Gallionsfigur und Galle. Kompetenz, in Abständen im grellen Kostüm der Impertinenz. Eine Instanz mit Neigung zum Instant-Urteil. Marcel Reich-Ranicki verband immer perfekter die Aufstiegsrasanz eines Davongekommenen mit jenen Herablassungen, die auf Thronen zur natürlichen Umgangsart werden. Typ und Tyrann. Ausgerechnet ein Jude, dem Mord im Warschauer Getto entronnen, wird zum obersten medialen Richter über deutsche Nachkriegs- und Langzeitfriedensliteratur. Ausgerechnet der im Namen eines barbarischen Kulturbegriffs Aussortierte darf zum groß- und breitmundigen Einsortierer deutscher Sprachkunstwerke avancieren. Ein geradezu böswitziger Vorgang, wie ihn George Tabori grotesker, humaner, gerechter nicht in einer seiner Theaterfarcen hätte erfinden können.

Der einst Erniedrigte, der doch selber auch gern beleidigte. Der Deutschland beschämte, indem seine Schärfe, seine rabiate Bewertungspraxis wesentlich dazu beitrugen, das Feld der westdeutschen Literatur zum Austragungsort einer historischen, ethischen, geistigen Neufindung zu erheben. Besagte Beschämung als Teil einer Befreiung, in deren Folge Reich-Ranicki zum Potentaten aufstieg. Und zum Populisten. Beides mit allen dazugehörigen Allüren, Anmaßungen, Allianzschmiedekräften und Abservierungslüsten. Groß auftrumpfend, grob niederstoßend.

Kleist und Hölderlin wären im »Literarischen Quartett« Spießruten gelaufen, und jenes Zuschauvolk, das erst das Fernsehen befragt, ehe es Lesevolk wird - es hätte sich verstanden gefühlt im Unverständnis über unglückliche Dichter. Und Kleist und Hölderlin hätten einmal mehr begriffen, dass Todesurteile mitten im Leben ausgesprochen werden und man sie lebenslang abbüßt.

Reich-Ranicki hat nie mit Kanonen auf Spatzen geschossen, aber er schoss mit einem Kanon nach dem anderen; seine Feder schmückte, oder sie sorgte, dass Dichter Federn lassen. Er war kein Möchtegern. Aber ein Mächtegern, und was für einer. Gegen Grass, gegen Handke, immer mit polternd-plakativer Wucht. Wissend um Wirkungen.

Martin Walser schrieb darüber den trefflich satirischen Roman »Tod eines Kritikers«. Der von der Machtausübung eines Reich-Ranicki zutiefst verletzte Autor hatte sich da zu einer intelligenten künstlerischen Rache hinreißen lassen, die aufs Neue eine wichtige Frage aufwarf: was man sich denn im rüden Kulturbetrieb um den Preis des eigenen Gewissens und der Würde gefallen lassen dürfe und was nicht. Mit der Gestalt des (fiktiven!) Über-Kritikers geißelte Walser das Wesen einer öffentlichen Selbstmächtigkeit, die eines Tages nur noch Steigerungsvarianten unerträglicher Egozentrik abhechelt. Statt einen Grundzug demokratischen Herrschens zu leben: Einfluss dadurch zu intensivieren, dass man Machtgebrauch doch immer in der Möglichkeit des Machtverzichts belässt.

Der Tod dieses großen, listigen, löwensüchtigen Charakters verwies spätestens seit dem erwähnten »Literarischen Quartett« des ZDF auf das moderne Lebensleid der Literatur. Sie hechelt schwitzend basarwärts. Ein Buch muss parallel zur Windeseile der Produktionsausstöße für Aufmerksamkeit sorgen - oder es ist tot, bevor es je leben durfte. Paradoxie der Zeit: Das Wertvolle erkennt sich oft nur noch darin, weggedrängt zu werden, der Kluge darin, dass er einsam wird. Wahre Literatur? Auf dem Markt der Hastigkeiten eine Literatortur. Reich-Ranicki war gefürchteter Präsident, lohender Patriarch, launiger Prinzipal und knallende Peitsche dieser Umstände.

Im Jahre 2000 verließ Sigrid Löffler das »Quartett«, derb angekräht von Reich-Ranicki. Die Sendung würde nur noch »Krach machen«. Sagte Löffler. Stimmt. Zwölf Jahre hatte sie aus- und mitgehalten. Wollte zeigen, dass Kritiker nicht nur staubige Spezialisten sind, die Kurven unbedingt mit einem Lineal vermessen wollen. Nun blieb vom Auftritt der Eingeweihten: Tritte in die Eingeweide. Logisch: Etwas ins Fernsehen heben heißt: dessen Niveau senken.

Und wieder so ein Witz: Ausgerechnet Reich-Ranicki lehnte 2008 einen Deutschen Fernsehpreis ab - entsetzt über das, was er an Klamauk auf der Gala in Köln erlebte. Damit löste er in allen Zeitungsspalten einen sogenannten Diskurs aus, über die mediale Szene streute sich ein Hauch von Nachdenklichkeit - es war wie ein Löffel Puderzucker auf einer Tasse Lebertran.

Eigens für ihn schuf FAZ-Herausgeber Joachim Fest ein eigenständiges Ressort, Reich-Ranicki wurde »Literaturchef« mit legendärer Aura. Er hat kluge analytische Bücher geschrieben. Der Stil betont schlicht. Umso überraschender plötzlich die Autobiografie: »Mein Leben«. Intelligente Konzentration auf das Schicksal, sich einst in Todesnähe hineinleben zu müssen. So war im Kritiker der erschütternde, unsentimentale Erzähler entdeckt: die Warschauer Gettozeit, die Flucht mit Frau Teofila, die Rettung durch einen kleinen polnischen Drucker, der im Suff sein Kampfziel formulierte - Hitler habe beschlossen, das »Judentum« zu vernichten, er aber habe beschlossen, diese zwei Juden sollen leben, »mal sehen, wer gewinnt«. Dann Befreiung, KP-Parteieintritt, Verhaftung wegen »ideologischer Fremdheit«, Parteiausschluss - und im Gefängnis in Warschau die Begegnung mit »einem der großartigsten deutschen Romane«, Anna Seghers »Das siebte Kreuz«; der Entschluss war gefasst, ein Leben mit und in der Literatur zu leben. Das Buch als Schatztruhe, in die man kriechen kann, um zur Welt zu kommen, wenn schon keine Heimat mehr möglich ist. Karl May mochte er nie: »Weil da ein Deutscher in die Welt zieht und mit dem Kollaborateur Winnetou Ordnung schafft«.

Nun ist Marcel Reich-Ranicki im Alter von 93 Jahren gestorben. In der Bestürzung auch die Idee einer Besinnung: Dichter mögen entlastet werden, mehr und mehr Veranstaltende sein zu müssen. Das Buch ist doch eine Verschlossenheit, und der beste Leser ist vielleicht jener, der über Literatur nicht laut redet, sondern Buches Verschlossenheit teilt. Reich-Ranicki endete das »Literarische Quartett« stets mit Brechts Satz, der Vorhang sei geschlossen und alle Fragen offen. Mit dem Tod des Kritikers ist die Frage nach den Chancen für eine solch unvergleichliche Monarchie der Meinung für sehr lange Zeit geklärt.

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