Wut und Zärtlichkeit
Reiz des Chaos und Unsterblichkeit - Filmregisseur Andreas Dresen mit Hans-Dieter Schütt im Gespräch
nd: Andreas Dresen, wenn unsere Gespräche Buch geworden sind, stehen die Dreharbeiten zum nächsten Film vor der Tür: »Als wir träumten«, nach dem gleichnamigen Roman von Clemens Meyer. Den Film schrieb wieder - Wolfgang Kohlhaase. Meyers Buch erzählt die Geschichte einer Gruppe von Jungs, die in einem Moment des Erwachsenwerdens in die deutschdeutsche Zeitenwende geraten. Und die diesen Moment des Erwachsenwerdens als Möglichkeit zum Aufbruch begreifen.
Dresen: Es gab eine Zeit des Träumens, sagt der Titel. Und er sagt auch: Sie ist vorbei. Die Jungs geraten in einen Strudel von Gesetzlosigkeit und auch ideeller Haltlosigkeit. Man wittert Chancen und erleidet Verletzungen. Beides. Das Buch ist zärtlich und wütend, es ist verzweifelt und hoffnungsvoll. Es ist aber keine Geschichte ideologischer Verwicklungen - dazu ist diese Generation nicht angetan. Wolfgang Kohlhaase wurde unmittelbar nach 1945 sozialisiert - offenbar gibt es Berührungspunkte zwischen der rauen Romantik dieser Nachkriegsgeneration in Berlin und jener Nachwendegeneration in Leipzig. Wolfgang verstand sich sehr schnell mit dem Buch Meyers. Nicht nur, weil im Buch geboxt wird, was ein Leben lang auch die Leidenschaft von Wolfgang war. Es ist eine handfeste Geschichte, sie spielt auf den Straßen, in dunklen Gegenden, es wird geliebt, gegründet und geprügelt. Die Anarchie des Aufbruchs herrscht. Ich habe mir jetzt noch mal die frühen Scorsese-Filme angeschaut, »Mean Streets«, »Who’s That Knocking at My Door« - das ist genau jene Räudigkeit, die uns für den Film vorschwebt und die sich traditionellen Erzählweisen verweigert. Scorsese, das ist ja oft ein raffiniertes Mosaik der Gegenschnitte, und offenbar wird bei ihm, wie Menschen in einer Einsamkeit zugrunde gehen, die doch mit größtmöglicher Sanftheit erzählt wird. Der Lebenswille pirscht mit nervöser Wachheit durch diesen realen, erfundenen Dschungel New York. Unterm Eis der Überlebensgesetze pulsiert das Blut.
Lebt im Buch von Clemens Meyer eine Welt, nach der Sie eine heimliche Sehnsucht haben?
Ja, weil sie mir sehr fremd ist und ich nicht in der Lage wäre, diese Welt zu leben. Das Wilde, Ungestüme fasziniert mich - aber dem steht meine Art gegenüber, die gleichzeitig immer Angst vorm Chaos produziert.
Was Sie sagen, erinnert an den frühen Brecht, an den Schlusssatz aus dem Stück »Im Dickicht der Städte«: »Das Chaos ist aufgebraucht, es war die schönste Zeit.«
Ja. Das genau ist es. Unser Film wird wahrscheinlich mit dem Satz enden: »Das Beste kommt noch« - und dabei wird einer verhaftet. Es ist etwas zu Ende - aber nicht alles. Versprochen werden einem vom Leben die blühenden Landschaften. Aber ins harte, kalte Reale übersetzt heißt es nur immer: Du wirst schon sehen, was dir blüht. Diese Jungs in »Als wir träumten« suchen nicht nach dem Asozialen, auf ihre Art sind sie auf der Suche nach Ordnung - und geraten aus diesem Grunde in asoziale Räume.
Eine Welt, die zu ordentlich ist, hat keine Spielräume für Neues. Neues entsteht auch aus anarchischem Denken.
Aber jede Gesellschaft wehrt sich gegen solches Denken, sie fühlt sich ungut provoziert - von etwas, das aber nötig ist. Im Mai 1968 schrieben Studenten in Paris an die Hauswände: »Eine Gesellschaft, die jedes Abenteuer abgeschafft hat, macht ihre eigene Abschaffung zum einzig noch möglichen Abenteuer.«
Das Beharren auf einem Maximum an Sicherheit erstickt jede Spontaneität und Kreativität. Was sich das Leben nicht bieten lässt. Jedes destruktive Sicherheitsideal sorgt für eine verschärfte Disziplinierung, die wiederum setzt bei den Kontrollierten Aggressivität frei, löst bei den Kontrolleuren Angst und noch stärkere Sicherheitsmaßnahmen aus. So führt jede Lösung des Problems nur zur Wiederkehr des Problems in noch radikalerer Form.
Im »nd« schrieb Martin Hatzius über Clemens Meyer: »Dem Leipziger Schriftsteller, 1977 geboren, ist die Rolle des Outlaws eingebrannt: Tätowierungen, Alkohol, Schlägereien, Jugendarrest und dann - Studium am Leipziger Literaturinstitut. Der Roman ›Als wir träumten‹ (2006): sein gewaltiger Durchbruch durch das Ende der sozialen Sackgasse in den Literaturbetrieb. Wo andere die Nichtigkeit des Normalen wähnen und daran verzweifeln, irren Meyers Blicke verstört umher, als hätte er drei, vier, fünf Augen und mehr. Nichtig? Nichts. Da war doch was, da ist was, und da und da und da. Inmitten des Nichts.«
Es ist wie eine Gedichtzeile meines Vaters: »Ich bin die Leere zwischen den Sternen«.
Andreas Dresen, sind Sie bisweilen überrascht und erstaunt über die Vielfalt Ihres Lebens? Spielfilm, Dokumentarfilm, die Verfassungsrichter-Aufgabe in Brandenburg. Also diese Spannweite gesellschaftlicher Erfahrungen. Der Wechsel von Einbindung und Entrückungsmöglichkeiten.
Ich freue mich sehr, so einen Beruf zu haben. Immer wieder empfinde ich es als großes Geschenk, so viel kennen lernen zu dürfen!
Bekommt man als Regisseur mit fünfzig eine Ahnung vom bevorstehenden Alterswerk?
Na Hilfe! Was unmittelbar oder mittelfristig vor mir liegt, das möge genügen, um mich nach jetzigen Maßgaben glücklich zu machen. Das Leben ist in jedem Moment eine Sache mit sehr offenem Ausgang. Mein Metier ist die Nahdistanz - dann sehen wir weiter.
Spielen Sie damit, eines Tages keine Filme mehr zu drehen?
Spielen lässt sich mit allem. Ich drehe leidenschaftlich gern Filme. Es ist mein Leben. Aber: Ich habe keinen Vertrag in der Tasche, der mich vor Überraschungen schützt, vor Beben, vor Zufällen, vor Schicksalsschlägen oder Schicksalswinken außerhalb dessen, was ich momentan tue. »Das Leben geschieht, während du mit anderen Plänen beschäftigt bist«, singt John Lennon.
Der Schicksalsschlag, dieser Einbruch ins sogenannte normale Leben, er ist letztlich der Nährboden aller Kunst, die wahrhaftig sein will - soll ich mich selber davon ausnehmen? Ich bin bei dieser Bemerkung keinesfalls fatalistisch, ich bin grundheiter.
Wie möchten Sie in Erinnerung bleiben?
Die Nachwelt ist nicht meine Sache.
Jeder möchte unsterblich sein.
Eine Illusion. Nutzloses Wünschen. Unsterblichkeit wäre schrecklich. Denn ewiges Leben würde den inneren Motor des Menschen, etwas zu tun, völlig lahmlegen: Man könnte, was man morgen tun möchte, ja noch ganz beruhigt in hundert Jahren tun. Als bekannt wurde, dass der Sänger Reinhard Lakomy an Krebs erkrankt war, gab er ein Interview und sagte aufschreckend nüchtern, jeder müsse sterben, nun sei eben er dran. Das hat mich tief berührt.
Sind Sie denn nicht neugierig auf die Zeit nach Ihnen?
Na klar, aber es ist wohl nicht zu ändern: Ich werde das nicht erleben. Ich werde halt verschwinden, so, wie irgendwann auch meine Filme verschwinden und vergessen sein werden. Irgendwann verschwindet ein Mensch wie ein Stein, den man ins Wasser geworfen hat. Wie man auf die Welt gekommen ist, so verschwindet man aus ihr. Es kümmert die Welt überhaupt nicht, dass wir sie für eine geringe Zeit mit unserem kleinen Gewicht belasten. Das entscheidende schlichte, aber sehr praktische Wort, das alles auf den Punkt bringt, heißt: Haushaltsauflösung. Was gestern bedeutsam schien, landet morgen auf dem Müll. Da gibt es von »Element of Crime« dieses schöne Lied: »Bring den Vorschlaghammer mit: Der ganze alte Schrott muss raus und neuer Schrott muss rein.«
Hans-Dieter Schütt: »Andreas Dresen – Glücks Spiel«. be.bra Verlag Berlin. 288 S., geb., mit Fotos, 16,95 Euro.
Buchpremiere am 1. Oktober im Kino »Babylon« Berlin-Mitte, 20 Uhr. Film, Lesung und Gespräch
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