Die innere Welt - ein ganzes Universum
Literaturnobelpreis für Alice Munro
Am Stand des S. Fischer Verlags auf der Frankfurter Buchmesse ließ man die Sektkorken knallen. Bei Dörlemann war es sicher ähnlich, denn auch dieser Schweizer Verlag hat Alice Munro im Programm. Die kanadische Schriftstellerin, die 1968 mit dem Erzählband »Tanz der seligen Geister« debütierte, hat ja schon mehrere Preise erhalten, unter anderem den renommierten Man Booker International Prize.
Seit Jahren schon galt sie als Anwärterin für den Literaturnobelpreis. Aber immer wieder haben sich Autoren vor sie geschoben, deren Werk spektakulärer schien. Mal sollten sie womöglich aus bestimmten Regionen der Welt stammen, mal haben die Juroren mit ihnen politische Intentionen verbunden. Dagegen schien das Lebenswerk der 82-jährigen Alice Munro auf den ersten Blick unspektakulär. Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Alltag, wie er inzwischen in vielen Ländern ähnlich ist. Privates, höchst Privates: Männer, Frauen, Kinder - aber was kann es da alles für Verwicklungen geben. Unendlich viele. Viele, über die nicht gesprochen wird, weil sie seltsam erscheinen, weil die Betroffenen fürchten, dass man sie nicht versteht.
Vielleicht hat das Talent der Alice Munro schon darin seine Grundlage: Sie versteht alles, was Menschen widerfahren kann. Ihr ist nichts dubios, nichts anrüchig. Beim Lesen hört man ihre leise Stimme: Alles ist möglich. Wie kann es sein, dass eine Frau nicht von dem Mann loskommt, der ihre Kinder tötete? Wie kann man eifersüchtig sein, wenn man den Betreffenden eigentlich gar nicht mag? Verstehe das einer! Oder dass eine Studentin sich herbeilässt, völlig nackt mit einem alten Mann zu speisen - was findet sie dabei? Aber sind wir, die Leser, denn berechtigt, uns darüber zu mokieren?
Man mokiert sich doch über so vieles. Dabei könnte man Alice Munros mild-spöttischen Blick auf sich spüren und eine leise Frage von ihr hören: Warum tust du das? Regst du dich so auf, weil du selber auf irgend etwas ärgerlich bist, auf jemanden oder auf dich selbst? Die Texte dieser Schriftstellerin zu lesen, hat in diesem Sinne etwas Therapeutisches. Aber vor allem ist es auch immer wieder ein literarisches Erlebnis. Kleine Prosastücke, die wie verdichtete Romane sind. Und wenn man sagt, ihr Thema seien Gefühle, so muss man hinzufügen, dass ihr Schreiben niemals gefühlig ist. Da wird nichts romantisiert, oftmals nicht einmal etwas erklärt, was die Autorin durchaus durchschaut hat. Aber sie tritt gegenüber ihren Gestalten achtungsvoll zurück - und tut das auch ihren Lesern gegenüber. Sie vertraut ihnen und ihren Texten, dass sie zur Wirkung kommen.
Seit den 1980er Jahren sind mehr als ein Dutzend Bücher von ihr auf Deutsch erschienen - alle mit »leisen Titeln«. »Kleine Ansichten«, »Der Mond über der Eisbahn«, »Die Liebe einer Frau«, »Himmel und Hölle«, »Glaubst du, es war Liebe?«, »Wozu wollen Sie das wissen?«, »Zu viel Glück«, »Was ich dir schon immer sagen wollte«… Vielleicht hätten sich Marketingleute in den Verlagen manchmal etwas Lauteres gewünscht. Aber für Munros subtile Prosa hätte das nicht gepasst. So verbreiteten sich ihre Bücher dann auch über leise Botschaften, über die ganz persönliche Leseempfehlung: Das musst du lesen, das ist einfach großartig.
Ob Alice Munro mehr Leserinnen als Leser hat? Vielleicht. Denn viele ihrer Geschichten handeln von Frauen. Aber wer sagt denn, dass Frauen sich besonders für Zwischenmenschliches interessieren, Männer dagegen für Fakten? Ein Klischee ist das, nicht mehr. Einer der Erzählungsbände von Alice Munro heißt »Offene Geheimnisse«. Der Titel gilt für ihr gesamtes Werk. Vom Rätselhaften ist diese Autorin angezogen - vom Rätselhaften, das für sie zugleich etwas ganz Gewöhnliches ist. Die innere Welt des Menschen - ein ganzes Universum. Alice Munro kann noch so viele Bücher schreiben - man wünscht es ihr - und doch wird sie nicht alles ergründen, was möglich ist. Was sie uns sagt: dass niemand das kann.
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