Der Heimatlosen unstillbarer Hunger
Buch und Ausstellung zu Horst Sagerts »Zwischenwelten«
Man kennt ihn vor allem als Schöpfer jenes dann legendär gewordenen Bühnenbildes für Jewgeni Schwarz’ »Der Drache«, den Benno Besson 1965 am Deutschen Theater inszenierte. Der junge, soeben an der Kunsthochschule Weißensee wegen Aufmüpfigkeit exmatrikulierte Einar Schleef notierte: »Ich war geplättet, hier war ich richtig, ein DDR Künstler definierte die DDR als grausames Provinzleben unter einem freßgierigen Drachen, der hinter einem goldenen Tor thronte, das er zu Strafaktionen, zum Wüten unter den Bewohnern seiner Stadt aufstieß.« 580 Mal wurde »Der Drache« gespielt!
Horst Sagert hatte jene fantastische Szenerie entworfen, in der Rolf Ludwig als Drache und Eberhard Esche als Ritter Lanzelot aufeinandertrafen. Es lag jene kaum merkliche Patina des Verfalls über der Szenerie, die an Max Ernst erinnert: verwesende Geschichte. Eine Metaphernschlacht. Blindwütige Macht trifft auf unterwerfungsgeile Ohnmacht. Das war so spielwütig-unangreifbar in Szene gesetzt, dass selbst der zur Premiere anwesende Walter Ulbricht nicht so dumm war, diesem »Drachen«, in dem er sich durchaus auch selbst hätte erkennen können, den Beifall zu verweigern.
Seltsamerweise standen die Schöpfer des Sensationserfolges ihrer Hervorbringung am kritischsten gegenüber. Sagert schreibt lapidar dazu: »Ich fand den ›Drachen‹ nie gut.« Auch Heiner Müller notierte ostentativ enttäuscht, und dabei wohl nicht ganz frei von Eifersucht: »Bessons Erfolgsinszenierung ›Der Drache‹ war das Ende des politischen Theaters in der DDR.«
Das ist bald fünfzig Jahre her - und als Legende immer noch gegenwärtig. Aber in dieser Ausstellung - und ebenso in dem begleitenden Buch mit Horst Sagerts Notaten, ersteht jene Szenerie höchst lebendig wieder auf. Kein Wunder, denn die sechziger Jahre waren eine Zeit heftigsten Richtungsstreits in der DDR, bei dem es lange möglich schien, Inhalte statt Phrasen, Kultur, Bildung und Wissenschaft statt Ideologie zum gesellschaftlichen Maßstab zu erheben. Letztendlich gelang es dann doch nicht.
Im Disput mit dem in Ost wie West gleichermaßen unbequemen Einar Schleef formulierte Sagert dann das, was als sein Lebens- und Schaffenscredo gelten kann: »Ich lebe lieber in einem Zwischenreich.« Dieses sei »ein Reich der Inspiration«. Sagert, der Unstellbare, immer im Übergang in sein jeweils anderes Ich begriffen: Maler, Welterfinder, Bildmagier, Besserwisser und Bühnenbildner. Alles zusammen und nie eines ohne das andere. Heimat? Nein, so einfach macht es sich Horst Sagert nicht, der 1934 im Pommerschen Dramburg geboren wurde und als Vertriebener ins Mecklenburgische Hagenow (eine »griese Gegend«) kam, wo er seine Fremdheit, ja sein absolutes Unerwünschtsein in jedem Blick der Einheimischen spürte.
Jemand, der das Thema Flucht so tief verinnerlichte, dass er, bevor er zum Maler und Bühnenbildner werden konnte, zum schnellsten Hundert-Meter-Läufer von Hagenow avancierte, weiß, was Leben in der Provinz heißt: jederzeit fluchtbereit zu sein. So erklären sich vielleicht auch die im ersten Moment so befremdlich klingenden Sätze: »Bei den Griechen gibt es den Begriff Wegelosigkeit. Mich interessiert nicht die Hoffnungslosigkeit, sondern der Balsam der Hoffnungslosigkeit.« Oder auch: »Die DDR war zwar verlogen, aber keine Verheißung. (...) Die DDR war als Möglichkeit immer besser als in der Realität. Es war keine Heimat, weil man nicht eingerichtet, nicht satt war.«
Sein so fantastisches wie zugleich illusionsloses Werk erwächst gerade aus jenem Hunger der Heimatlosigkeit, dem Zwang, die Welt, die man bewohnen will, im eigenen Kopf zu erzeugen. Sagert sagt: »Mich hat immer die Ohnmacht interessiert, nie die Macht.« Mit dem Wissen seines Jahrgangs 1934 blickt er auf die Anfänge der DDR zurück, ohne Zorn, aber mit Härte: »Das FDJ-Hemd war die verlängerte HJ-Uniform.« Wer so provokant auf die Zeiten schaut, darf keine Angst davor haben, von den notorisch Selbstgerechten gemieden zu werden. Sagert bewohnt darum sein selbstgewähltes Exil, von dem es heißt: »Ich bin ein Satyr im Mittagsschatten.« Wo genau das ist? Immer im paradoxen Zugleich der Gegensätze, dort, wo eine Bühne steht, aber sich auch jener geheime Garten verbirgt, in den niemand Einblick hat.
Nicht weniges klingt dabei nach Schwierigkeiten mit sich und der Welt, nach lauter beschwerlichem Nirgendwo. Sagert, der notorisch Zweideutige, sucht lebenslang einen Ausdruck für der Deutschen liebstes Kind: ihr unglückliches Bewusstsein, ihr Leiden an sich selbst, dem er - obwohl selbst daran teilhaftig - nur skeptisch zu begegnen vermag.
Der Bild-Text-Band zur Ausstellung in Neuhardenberg stellt Horst Sagert als einen sich selbst zur knappsten Weltdeutung per Aphorismus Verurteilenden vor. Ein Niemandsland zwischen Montaigne und Hochhuth, das er lustvoll durchwandert und dabei besonders gern laut »Ich« ruft. Niemals Scheu davor zeigend, sich selbst zu widersprechen, denn das Leben macht bekanntlich auch nichts anderes. Liest man Sätze wie den folgenden, beginnt man bereits etwas von jenen fortwährend umspielten Paradoxien zu ahnen, die das Betriebsgeheimnis des Multikünstlers Sagert sind: »Das Theater ist immer die Ecke im Leben, eine große Ecke. Man kann in die Ecke gestellt werden oder sich so in die Ecke stellen, dass sie etwas ausstrahlt, dass dieser Winkel Berechtigung entfaltet.«
Oh ja, der Eckensteher aus Überzeugung Horst Sagert ist zugleich immer unsichtbarer Mittelpunkt des Geschehens - ein überaus poetischer Bildvermesser, noch bevor dieses überhaupt sichtbar wird. Das erklärt »Sagerts Welt«, den Ausstellungstitel in Neuhardenberg. Wir sehen Skizzen zu Bühnenbildern und Kostümentwürfe, fertige Kostüme, nicht nur zu »Der Drache« auch zu »Der Tartüff« von 1963 oder »Faust-Szenen« von 1984. Und das Erstaunliche, das so nicht Erwartete: die Arbeit am Bühnenbild treibt ihn voran, weiter bis ins eigenständige grafische Werk, bis zu jenen farbstarken Gemälden, in denen Landschaft wie aus der elementaren Struktur verwendeter Ausgangsmaterialien hervorgezogen wirkt.
Ganz am Anfang des Buches aber stehen blässlich gewordene Polaroids aus den Sechzigern. Puppenhafte Figuren, sepia-artig zeitentrückt, zudem in winzigen Buchstaben am Rande beschriftet und mit briefmarkenhaft gezacktem Rand. Da schließt sich der Bogen von den Anfängen der Fotografie als Daguerreotypie in der Mitte des 19. Jahrhunderts, jenen silberbedampften Kupferplatten, auf die dann das Bild projiziert wurde, zum Polaroid, das gestern noch eine avantgardistische Technik war und heute schon wieder von gestern ist. Beide Bilder, die sie produzieren, sind das unmittelbare Resultat einer chemischen Reaktion, wenn auch bereits in magischer Hinsicht: Camera obscura. So wie Sagerts ganzes Werk, auch dort, wo es in bühnenpraktischer Absicht entstand, immer Original ist, nie Kopie.
Die Ausstellung »Sagerts Welt« ist noch bis zum 10. November im Schloss Neuhardenberg zu sehen (Di-So 11-19 Uhr); Der Text-Bildband Horst Sagert, »Zwischenwelten«, Hg. Mark Lammert und Stephan Suschke, erschien im Verlag Theater der Zeit, 127 S., geb., 24,50 €.
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