Grableuchten zwischen Kirchbänken
Ein Hauch von Vergänglichkeit lag über Norddeutschlands erstem Gothic-Gottesdienst / Mehr als 300 Menschen feierten
Nortrup. Ihre Gesichter waren schwarz geschminkt und blass gepudert, die Kleidung schwarz und mit Metallketten oder Sicherheitsnadeln verziert: Etwa 40 der mehr als 300 Besucher in der Dorotheenkirche von Nortrup-Loxten bei Osnabrück waren auf Anhieb als Gothic-Fans erkennbar. Andere Gothic-Anhänger fielen erst auf den zweiten Blick auf, und viele Besucher hatten mit der Szene auch gar nichts zu tun. Der evangelische Pastor Uwe Brand hatte sie alle am Freitagabend zu einem ungewöhnlichen Ereignis eingeladen: zu Norddeutschlands erstem Gothic-Gottesdienst.
In der Kirche wehte ein Hauch von Vergänglichkeit, stilgerecht wiesen Grableuchten den Besuchern den Weg in die Kirchenbänke. Auch Sebastian Buschermöhle ist gekommen. Er hatte mit einem Referat über Gothic-Musik im Religionsunterricht der Berufsschule Pastor Brand überhaupt erst auf die Idee zu diesem Gottesdienst gebracht. »Ich hatte nicht mit diesem Andrang gerechnet«, sagte Buschermöhle zu Beginn. Deshalb sei er nun auch ein wenig zittrig.
Der Pastor hatte neben dem Altarraum eine Großbildwand aufbauen lassen, über die von DVD Musikvideos mit lautem Gothic-Rock oder eigene Videos flimmerten. Scheinwerfer tauchten die sonst abgedunkelte und nur durch Kerzen erleuchtete Kirche in weißes, rotes oder grünes Licht. Nebelschwaden stiegen auf und hüllten den Pastor im schwarzen Talar teilweise ganz ein. Harte Rock-Bässe wechselten mit klassischen Orgelklängen, Vaterunser und Segen mit Gedichtlesungen und Theaterszenen über Zweifel, Melancholie, Einsamkeit und Erwartungen anderer.
Der Pastor und sein Team hatten den Gottesdienstes unter das Thema Selbstfindung gestellt. »Ich würde so gerne wissen, wer ich bin«, sagte Brand in seiner Predigt. »Wozu auch fröhlich sein, wenn alle meine Erfahrung der Hoffnung widerspricht?« Dann berichtete er von Maria Magdalena aus der Bibel, in deren Selbstfindung etwas Ungewöhnliches geschehen sei: »Sie findet Gott«, sagte Brand und schlussfolgerte: »Gott ist, und weil Gott ist, ist alles gut. Ich darf wirklich die oder der sein, der ich bin.«
Die Botschaft kam an. »Uns hat es sehr gut gefallen, das war einfach mal eine Alternative«, sagte Denis Mazzucca, der seit zehn oder 15 Jahren nicht mehr in der Kirche war. Er fand: »Die Kirche muss sich weiterentwickeln, wenn sie fortbestehen will.« Christin Bester gefielen vor allem der Anfang des Gottesdienstes und die Lieder. Beim Kyrie-Lied des Pastors habe sie eine Gänsehaut bekommen.
Michael Brand, der sofort als Gothic-Anhänger erkennbar war, hoffte, dass der Gottesdienst Vorurteilen entgegenwirken könne. Und Lars Domschke, der den Gottesdienst mit vorbereitete, war früher selbst in der Gothic-Szene. »Ab Mitte 20 bin ich da raus und in die Kirche reingewachsen.« Für den Gottesdienst hatte er aber extra noch einmal seine Gothic-Kleidung angelegt. Sein Kommentar dazu: »Das neue Schlagwort heißt doch Inklusion.«
Pastor Brand freute sich nach dem Gottesdienst, dass »so viele Leute aus der Szene gekommen sind«. Seine größte Herausforderung sei gewesen, »dass ich ich selbst sein konnte und mich nicht verbiegen musste«. Denn es sei eine Gratwanderung, sich selbst treu zu bleiben und gleichzeitig für die Szene etwas zu finden, das sie verstehe.
Auch Sebastian Buschermöhle war am Ende zufrieden. Ein besonderer Moment für ihn sei das Intro, der Einstieg in den Gottesdienst, mit einem Song der Band »Ewigheim« gewesen. »Das war wirklich gut gelungen«, lautete sein Fazit. epd/nd
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