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  • Politik
  • TV-Kritik: »Ihr seid wohl wahnsinnig« (RTL)

Die dicksten Dinger

  • Peter Hoff
  • Lesedauer: 4 Min.

Raus aus dem Alltag und echte Abenteuer bestehen!«, fordert am Ende eine raue Männerstimme aus dem Off die Zuschauer auf, sich selbst oder ihre Nächsten auf dem Altar deutscher Fernsehunterhaltung zu opfern, und der Wer betext der Programmzeitschrift ver spricht, wir könnten »Adrenalinstöße spüren, Kräfte auf die Probe stellen«. Es sei die »gefährlichste Show der Welt«, verheißt der Untertitel, und der Titel schreit in BILD-Manier »Ihr seid wohl wahnsinnig«. Der Vorspann zeigt einen gewaltigen Feuerball, flammendes Infer no, die Studiokamera will nicht zurück stehen und fliegt geradezu durch den Ver anstaltungssaal. Das Warm-up-Team hat ganze Arbeit geleistet, das Publikum ist am Kochen, noch bevor sich auf dem Bildschirm auch nur das geringste getan hat, und wenn dann die Opfer unseres Erlebnisdranges ihr »Abenteuer« überstanden haben, bringen ihnen die Saalgäste stehende Ovationen.

Fernsehen als Fluchtraum aus dem Alltagsfrust nichts Neues, aber RTL hat ein neues Format dafür entdeckt, die »Ac tionshow«. Normalbürger werden aufgefordert, sich auf »Abenteuer« einzulassen, etwas zu tun, was nach herkömmlicher Vorstellung »wahnsinnig« ist, sich beispielsweise auf die Tragflächen eines Flugzeuges zu stellen und, angeschnallt, Loopings zu überstehen. Oder einen Abgrund mit einem Auto auf einer Brücke aus zwei Gurten zu überqueren. Oder auf dem Lenker eines Motorrades sitzend sich von einem Stuntman die Wände hinauffahren zu lassen. »Wetten, dass ...« als Improvisation. Filmeinspiel und Show vor dem Saalpublikum wechseln einander ab. Sicher, alles ist vorher abgecheckt, das Risiko berechnet und, so weit es geht, ausgeschlossen. Dennoch verlangen diese gefährlichen Situationen, um sie überstehen zu können, vom Kandidaten einiges an Selbstverleugnung. Vor allem Verleugnung des eigenen Denkvermögens.

Daneben wirken in der »Actionshow« auch »echte« Stuntmen und -women mit. Einer versucht in einem Boot eine Insel zu überspringen, eine andere fährt mit einem Auto einundzwanzig andere, aufrecht stehende Autos so um, dass sie dem fahrenden Wagen auf das Dach fallen. Ein dritter lässt sich die Augen verbinden und setzt sich so der Gefahr aus, in ein aufrecht stehendes Messer zu fassen, und einer kriecht schließlich mit vierzehn Klapperschlangen in einen Schlafsack. Es ist das alte Spiel, das wir alle aus fernen Kindertagen noch als »Mutprobe« in Erinnerung haben; »Traust dich nicht!« »Trau mich wohl!« Ein weiterer Schritt zur Infantilisierung des Mediennutzers.

Präsentiert wird das Ganze von Bärbel Schäfer, die ansonsten fünf Tage in der Woche, jeweils nachmittags um drei, mit Bekenntnissen von Verbalexhibitionisten nervt, und von Kalle Pohl, der bei »7 Tage

7 Köpfe« den Deppen spielt. Diese beiden Lustigmacher treten nun in der Show auch noch gegeneinander an »Wer hat die dicksten Dinger an Abenteuern im Sack?« und wer verliert, muss seiner seits irgendetwas nervenzehrendes vollbringen, beispielsweise in einem präparierten Auto aus einigen Metern Höhe sich auf andere Autos fallen lassen, was Frau Schäfer zum Selbstbekenntnis veranlasst. »Ich piss mir in die Hosen!«

Aus der häufigen Verwendung von Autos und der Ansiedelung der Filmlocations lässt sich schließen, dass das Format aus dem Amiland stammt, wie auch die meisten der »Wahnsinnsideen«, die in einem Nachrichtenblock von den beiden Spaßmachern vorgestellt und (rassistisch und ausländerfeindlich, natürlich immer im Rahmen des eben noch Verträglichen)

kommentiert wurden. Auch die Masche, mit der die Show präsentiert wird, ist im Lande der unbegrenzten Unterhaltungsmöglichkeiten gestrickt worden: Das gespielte Gegeneinander der Spielmacher, die auf Spannungserzeugung ausgelegte Sprechweise, die ganze Marktschreierei bei der Darbietung.

Mit dieser Show ist das deutsche Fernsehen der apokalyptischen Prophezeiung des US-amerikanischen Medienökologen Neil Postman wieder ein Stückchen näher gekommen, der schon vor anderthalb Jahrzehnten vorhersagte, wir würden uns irgendwann einmal »zu Tode amüsieren«. Damit ist hier nicht die Gefährlichkeit der Stunts gemeint, die von den Kandidaten zu vollbringen sind und die ohne Zweifel gut kalkuliert und abgesichert sind. Es geht um den Konkurrenzkampf der Medienanbieter, die einander auf jede nur vor stellbare Weise zu übertrumpfen suchen. Es geht aber auch um unsere Manipulier barkeit: Wo liegt die Grenze dessen, wofür wir uns den Medien und Medienmachern ausliefern?

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