- Politik
- Vor 80 Jahren: der ungesühnte Mord von Mechterstädt
Eine studentische «Heldentat»
Die Mörder wurden nicht bestraft, die Untat blieb ungesühnt. Dabei gibt es kaum ein politisches Verbrechen, das so genau, geradezu minutiös dokumentiert ist, wie die Ermordung jener 15 wehrlosen unbewaffneten Zivilisten aus Bad Thal am 25 März 1920 ausgangs des Dorfes Mechterstädt. Nicht nur die Namen der Toten, sondern auch die ihrer Mörder waren schon 1920 bekannt.
Die Verantwortlichen bzw. an dem Mord unmittelbar Beteiligten rühmten sich offen ihrer «Heldentat». So etwa Fregattenkapitän a. D. Bogislav v. Selchow, 1920 Kommandeur des Marburger Studentenkorps. In seinen 1936 veröffentlichten Memoiren widmete er dem «Feldzug nach Thüringen» ein ganzes Kapitel. Am Vor abend des Mordes von Mechterstädt hatte er ausdrücklich befohlen, bei einem Fluchtversuch des Gegners rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen. Sein Stabsfeldwebel Karl Schaumlöffel hatte bereits 1920 in seinem Buch «Das Studentencorps Marburg in Thüringen» mit preußischer Gründlichkeit den Hergang des «Unternehmens Bad Thal» geschildert, «das mit Geschick und Erfolg nach der Art zu Ende geführt wurde, wie es von uns allen überall sonst erwartet wurde». Zu einer ganz anderen Einschätzung der Vorkommnisse kam Ernst Lemmer, der spätere Bundesminister für inner deutsche Angelegenheiten in der Regierung Adenauer. Ebenfalls Student an der Universität Marburg und Mitglied der republikanischen Volksarmee, hatte er sich an diesem so genannten Feldzug gegen Thüringen beteiligt, war aber entsetzt über die Bluttat von Mechterstädt. Er fuhr nach Berlin und informierte darüber den Abgeordneten Schücking und den Reichswehrminister Dr. Otto Gessler. Auch sein ehemaliger Kommilitone Henning Duderstadt war empört und veröffentlichte bereits 1920 ein Buch unter dem Titel: «Der Schrei nach dem Recht: Die Tragödie von Mechterstädt».
Das Verbrechen geschah wenige Tage nach der Niederschlagung des Kapp-Putsches durch den entschlossenen Wider stand von Arbeitern, Angestellten und verfassungstreuen Bürgern. Die Nachricht vom Putschversuch war von reaktionären Studentenverbindungen begeistert aufgenommen worden. Sie sahen den Tag der Abrechnung mit den «Novemberverbrechern» gekommen. Bereits im September des Vorjahres hatten sich die schlagenden Verbindungen in Marburg auf Anregung der Reichswehrbrigade Kassel zum Studentencorps Marburg (Stukoma) zusammengeschlossen. Nun übernahm der Fregattenkapitän a. D. Bogislaw v. Selchow dessen Führung und vor allem die Organisation ihrer Bewaffnung. Durch zwei Offiziere hatte Kapp mit der Stukoma Verbindung aufgenommen. Die Nachricht vom Scheitern des Putsches und der Flucht von Kapp nahm man in Marburg zunächst mit Unglauben und dann mit dumpfer Wut auf. Da erreichte die Studenten am 19 März 1920 ein Appell des Majors Freiherr v. Schenk, der die Reichswehr Truppen in Marburg, einschließlich der «Zeitfreiwilligen» unter den Studenten aufrief, gegen den «Aufruhr in Thüringen» zu Felde zu ziehen.
Innerhalb kürzester Zeit stand ein Bataillon von mehr als 1000 Mann, eingekleidet in feldgraues Tuch, versehen mit Waffen und Bagage, zum Abmarsch bereit. Unter Musik und mit ihren Korporationsfahnen zogen die studentischen «Zeitfreiwilligen» in den Bürgerkrieg - begleitet von markigen Worten des Mar burger Rektors, der den Geist von 1914 beschwor. Zu ihrer Enttäuschung jedoch herrschte in Thüringen friedliche Ruhe. In Ermangelung von «Feindberührung» verhafteten sie in Bad Thal 15 Arbeiter. Sie waren ihnen als «Rote» denunziert worden-. Die Waffen, die man bei ihnen suchte, wurden nicht gefunden. Die Gefangenen, deren einziges Verbrechen darin bestanden hatte, die Republik gegen die Putschisten verteidigt zu haben, wur den zunächst nach Sattelstädt gebracht und sollten von dort nach Gotha transpor tiert und vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Im Morgengrauen des 25. März entledigte man sich ihrer kurzerhand: Alle 15 Gefangene wurden am Ortsausgang von Mechterstädt von den «Zeitfreiwilligen» der Stukoma erschossen. Die Leichen ließ man auf der Straße liegen.
Das Verbrechen löste große Empörung nicht nur in Thüringen aus. Unter großer Anteilnahme der Bürger wurden die Toten auf dem Friedhof von Bad Thal beerdigt. Zu ihren Ehren ließ man einen Gedenk stein anfertigen, der die Inschrift trug: «Dem Andenken unserer am 25. März 1920 im Kapp-Putsch von den Marburger Studenten bei Mechterstädt erschossenen 15 Genossen von Bad Thal gewidmet von der Arbeiterschaft Ruhlas Bad Thal und Umgebung.» Diese Zeilen erregten das Missfallen der Universität Marburg, doch erst nach 1933 gelang es ihr, den Verweis «im Kapp-Putsch von den Marburger Studenten» tilgen zu lassen. Heute trägt die Tafel wieder die ursprüngliche Beschriftung. Zum 30. Jahrestag des Mordes an den 15 Thaler Arbeitern wurde 1950, an der Stelle, wo der Mord geschah, ein Stein mit deren Namen enthüllt...
Auf Druck der Öffentlichkeit war es zwar zu einem Prozess, zunächst vor dem Kriegsgericht in Marburg gekommen. Auf der Anklagebank saßen, neben dem Hauptangeklagten Leutnant Goebel 14 Studenten, darunter vier Studenten der Rechtswissenschaft, neun Mediziner und ein Philologe - nach Ansicht ihres Verteidigers Dr. Luetgebrune allesamt anständige, gebildete Menschen. Das Marburger Gericht folgte dieser Auffassung und sprach die Angeklagten frei. Auch die Verhandlung in zweiter Instanz vor dem Außerordentlichen Schwurgericht in Kassel geriet zur Farce und endete mit einem Freispruch.
Kurt Tucholsky kommentierte die Justizposse in der «Berliner Volkszeitung» mit einem Gedicht: «Feg sie hinweg, wenn Du noch Atem hast! / Volk! / Das werden Deine Richter und Beamte! / Volk! / Das darf Dich einmal richten und verwalten, / wenn s ausstudiert hat! / Volk! / Feg sie hinweg! / Das bunte Öl, das glitzernd / Auf Deinem Wasser oben schwimmt, ist Dreck. / Und halst Du wiede.r still und läßt sie schalten: / Sie lachen. Töten. Werden was. / Und alles bleibt beim Alten.» Seine Befürchtung sollte sich erfüllen. Die an der Mordtat beteiligten Studenten konnten unbehelligt ihr Studium fortsetzen; sie machten Karriere in der Weimarer Republik und viele von von ihnen auch nach 193‹3 unter Hitler. Das Volk hatte offenbar keinen Atem, um diese verhängnisvolle Entwicklung zu verhindern.
Unsere Autorin, bis 1992 Bibliothekarin, lebt und arbeitet in Erfurt, zahlreiche Publikationen zur Regionalgeschichte, u.a. «Erfurter Straßennamen» (1992).
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.