Die verpasste Kernspaltung

Vor 50 Jahren starb die französische Atomforscherin Irène Joliot-Curie

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Die erste Frau, die 1903 den Physiknobelpreis erhielt, war Marie Curie. Mit ihrem Ehemann Pierre hatte sie zwei Töchter: Irène und Eve. Während Eve, die jüngere von beiden, als Publizistin Karriere machte, studierte Irène in Paris Mathematik und Physik. Anschließend trat sie in das von ihrer Mutter geleitete Radiuminstitut ein, wo sie den Physiker Frédéric Joliot kennenlernte und 1926 heiratete. Das bevorzugte Interesse des Forscherehepaares galt von Anfang an der Radioaktivität und damit einem Gebiet, auf dem andere Wissenschaftler seinerzeit keine großen Entdeckungen mehr erwarteten. Wie voreilig dieser Schluss war, zeigten die Joliot-Curies erstmals 1934: Sie schossen Alpha-Teilchen (Heliumkerne) auf eine Aluminiumfolie und erzeugten dadurch ein radioaktives Phosphorisotop, das mit einer Halbwertszeit von knapp drei Minuten in ein stabiles Siliziumisotop zerfiel. Für diese Entdeckung der »künstlichen Radioaktivität« wurden Irène Joliot-Curie und ihr Mann 1935 mit dem Chemie-Nobelpreis geehrt. Aber nicht nur in der Forschung, auch in der Politik war Irène sehr aktiv. Sie gehörte der Sozialistischen Partei an und wurde 1936 von Léon Blum als Staatssekretärin für Wissenschaft und Forschung in die linke Volksfrontregierung berufen. Zum ersten Mal übernahm damit eine Frau in Paris ein Regierungsamt, was insofern bemerkenswert ist, als die französischen Frauen damals weder das aktive noch das passive Wahlrecht besaßen. Auf Grund ihrer wissenschaftlichen Erfolge erhielt Irène 1937 eine Professur an der Sorbonne. Zu jener Zeit sorgten vor allem die Experimente des italienischen Physikers Enrico Fermi in der Fachwelt für Aufsehen. 1934 hatte Fermi damit begonnen, das radioaktive Element Uran (Ordnungszahl 92) mit Neutronen zu bestrahlen. Unter den Reaktionsprodukten stieß er dabei auf ein Element, welches er als Eka-Rhenium (Ordnungszahl 93) den so genannten Transuranen zuordnete. Diese Auslegung der Fakten blieb jedoch nicht unwidersprochen und wurde namentlich von der deutschen Chemikerin Ida Noddack vehement in Zweifel gezogen. Damit nicht genug, äußerte Noddack schon 1934 die Vermutung, »dass bei der Beschießung schwerer Kerne mit Neutronen diese Kerne in mehrere größere Bruchstücke zerfallen, die zwar Isotope bekannter, aber nicht Nachbarn der bestrahlten Elemente sind«. Niemand allerdings griff diese Idee auf, denn eine Spaltung des Atomkerns war selbst für den berühmten dänischen Physiker Niels Bohr ein Ding der Unmöglichkeit. Irène Joliot-Curie und ihr Mitarbeiter Paul Savitch dachten ähnlich. Im Anschluss an Fermi beschossen sie 1937 Uran mit Neutronen und erzeugten dabei eine radioaktive Substanz mit einer Halbwertszeit von 3,5 Stunden, die Ähnlichkeiten mit dem relativ leichten Element Lanthan (Ordnungszahl 57) aufwies. Von diesem Befund irritiert, widerriefen die französischen Forscher dann ihr Ergebnis und erklärten die 3,5-Stunden-Substanz zu einem Transuran. Auch am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem lief die Suche nach den superschweren Elementen auf Hochtouren. Während die Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann vorrangig die experimentelle Arbeit leisteten, war die Physikerin Lise Meitner mehr an theoretischen Fragen interessiert. Der entscheidende Durchbruch indes wollte den Forschern nicht gelingen. Zu allem Überfluss musste Meitner vor der Judenverfolgung der Nazis im Sommer 1938 nach Schweden fliehen. Hahn und Straßmann, die die Experimente gleichwohl fortführten, stellten im Dezember 1938 fest, dass bei der Neutronenbestrahlung des Urans das Element Barium (Ordnungszahl 56) entstanden war. Die beiden Chemiker gaben sich ratlos. »Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen?«, fragte Hahn am 19. Dezember bei Lise Meitner nach, die rasch begriff, was passiert war: Ihre Kollegen hatten den Urankern in zwei Teile gespalten. Und obwohl sie diese Deutung zunächst mit Skepsis aufnahmen, publizierten Hahn und Straßmann ihre Ergebnisse bereits am 6. Januar 1939 in der Zeitschrift »Die Naturwissenschaften«. Danach lösten sich innerhalb weniger Monate auch die neu entdeckten Transurane in Schall und Rauch auf, wie Ida Noddack nicht ohne Genugtuung in derselben Zeitschrift konstatierte. Das heißt im Klartext: Fermi und seine Kollegen hatten die Spaltprodukte des Urans fälschlicherweise für superschwere Elemente gehalten. Das erste echte Transuran wurde übrigens 1940 von den US-Physikern Edwin McMillan und Philip Abelson in Berkeley entdeckt und auf den Namen Neptunium getauft. Besonders groß war Anfang 1939 die Enttäuschung in Paris, wo Irène Joliot-Curie und Paul Savitch die Entdeckung der Kernspaltung nur um Haaresbreite verfehlt hatten. Denn eine Überprüfung ihres Experiments ergab: Die rätselhafte 3,5-Stunden-Substanz war tatsächlich ein Lanthanisotop gewesen. Während des Zweiten Weltkrieges verzichteten die Joliot-Curies auf die Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse, da sie befürchteten, die Deutschen könnten diese beim Bau einer Atombombe missbrauchen. 1944 flüchtete Irène mit ihren beiden Kindern in die Schweiz, Frédéric ging in den Untergrund. Kurz nach Kriegsende wurde das Forscherehepaar von Charles de Gaulle mit der Leitung der französischen Atomenergiebehörde beauftragt. Als Direktorin des Pariser Radiuminstituts engagierte sich Irène überdies in der Friedens- und Frauenbewegung und wandte sich mit Entschiedenheit gegen die nukleare Aufrüstung Frankreichs. Aus diesem Grund und weil sie in der Frühzeit des Kalten Krieges mit den Kommunisten sympathisierte, wurde sie 1951 aus allen politischen Ämtern entlassen. Sie widmete sich daraufhin verstärkt ihrer Lehrtätigkeit und war 1955 an der Planung eines neuen Instituts für Kernforschung in Orsay bei Paris beteiligt, das heute zu den führenden in Europa gehört. Bis zuletzt arbeitete Irène Joliot-Curie relativ ungeschützt mit radioaktiven Präparaten und erlitt dadurch schwere Strahlenschäden. Am 17. März 1956 starb sie in Paris an Leukämie. Sie wurde 58 Jahre alt und erhielt, wie später auch ihr Mann, ein Staatsbegräbnis.

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