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Pilzkonzept aus der Retorte
Das Denkmal von Politik und Bahnvorstand ignoriert die bestehende Verkehrsstruktur Berlins
Berlins neuer Hauptbahnhof ist aber nicht nur ein besonderes Gebäude, sondern auch der sichtbare Teil eines Verkehrskonzeptes, das bereits nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf dem Papier stand. Berlin hatte zwar seit 1882 eine gut funktionierende Stadtbahn, die zwischen dem Schlesischen Bahnhof und Charlottenburg auf einem Viadukt eine Ost-West-Verbindung herstellte; indes fehlte der Durchmesser von Nord nach Süd. Die Fernzüge aus diesen Richtungen endeten an zahlreichen Kopfbahnhöfen: dem Stettiner, dem Görlitzer, dem Anhalter, dem Potsdamer oder dem Lehrter Bahnhof. Mit Zeitverlust und ziemlich umständlich musste der Reisende von Bahnhof zu Bahnhof wechseln, wenn er über Berlin hinausfahren wollte.
Die Kopfbahnhöfe wurden von 1951 an stillgelegt. Die Deutsche Reichsbahn baute einen Außenring - weniger wegen der Bequemlichkeit für Reisende, sondern aus politischen Gründen. Die Züge aus der DDR sollten von den Westsektoren ferngehalten werden. Berlin-Lichtenberg, Berlin-Schöneweide und Berlin Ostbahnhof wurden die Abgangsbahnhöfe in den Ostbezirken, Zoologischer Garten bald der einzige Abfahrtsort für die Westbezirke. Folglich musste man mit mehr oder weniger Zeitaufwand immer um den Großraum herumfahren.
Das sollte sich nach der Wiedervereinigung ändern. Die Projektgesellschaft DE-Consult, Tochter von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Bank, hatte bereits vor dem Mauerfall Pläne erarbeitet, wie der Eisenbahnverkehr organisiert werden könnte. 1990 hörten die Berliner zum ersten Mal von Achsenkreuz und Ringmodell. Beide Konzepte fielen aber durch. Der Kompromiss war das »Pilzkonzept«: eine Achse als Stiel, ein halber Ring - im Norden - als Kappe.
Was von diesen Ideen blieb, war der Zentralbahnhof am Treffpunkt der Ost-West-Achse (der Stadtbahn) mit der noch zu errichtenden Nord-Süd-Achse. Er sollte dort entstehen, wo es den Lehrter Stadtbahnhof noch gab. Heute markiert die gläserne Banane, das Hallendach über der Stadtbahn, die Ost-West-Achse, und die quergelegten Brückenbauten symbolisieren die Nord-Süd-Achse, die im Tunnel liegt.
Des einen Freud, des anderen Leid
Der aus vier Röhren bestehende, 3600 Meter lange Tiergartentunnel, der morgen eröffnet wird, ist der eigentliche Clou des Konzeptes. Ohne den oberirdischen Verkehr zu stören oder von ihm gestört zu werden, können die Züge auf direktem Wege von Nord nach Süd und umgekehrt fahren; dies erspart die Zeit einer Stadtrundfahrt. Deshalb wirbt die Deutsche Bahn damit, dass man mit dem ICE in nur noch 75 Minuten nach Leipzig fahren könne - bis zu 20 Minuten schneller als bisher. Auch die Regionalzüge fahren künftig bis in die Mitte von Berlin. Sie halten neuerdings am Potsdamer Platz, in Gesundbrunnen, Südkreuz (bisher Papestraße) und Lichterfelde-Ost. Wer dort wohnt, hat seine Freude.
Andere müssen dagagen rechnen, wie viele Minuten sie verlieren, weil auf ihrem Bahnhof die Fernzüge und ein Teil der Nahverkehrszüge nicht mehr halten. Der Ostbahnhof büßt genauso ein wie Schönefeld Flughafen, Potsdam Hauptbahnhof und Bahnhof Zoo.
Besonders West-Berliner sind erbost, weil ihr Bahnhof Zoo in den Fahrplänen des Fernverkehrs gestrichen wurde. Zugegeben, er liegt bei den Zügen, die vom Hauptbahnhof auf der Trasse der früheren Lehrter Bahn direkt nach Spandau fahren, nicht mehr am Weg. Aber musste sich die Deutsche Bahn so hartherzig zeigen, die Fernzüge auf der Stadtbahn in Zoologischer Garten durchfahren zu lassen? Das riecht nach Dressur: Reisende sollen gefälligst am Hauptbahnhof ein- oder aussteigen.
Der Umsteigepunkt soll gleichzeitig Anziehungspunkt für Flaneure und Shopper werden. Die Deutsche Bahn rechnet mit täglich 300 000 Schau- und Kauflustigen, die an den Geschäften, Bars und Restaurants in den fünf Etagen zwischen 19 und 42 Meter über Normal Null ihre Freude sowie ein offenes Portemonnaie haben werden. Skeptiker dagegen halten allenfalls 55 000 Besucher für realistisch. Da werden hier, um die Rendite der Investoren zu sichern, die Reisenden vom Bahnhof Zoo gebraucht. Doch gegen solche Bevormundung regt sich Protest mit über 100 000 Unterschriften.
Die »Uneinsichtigen« von der City-West sind bei weitem nicht die Einzigen, die dem Bauherrn die Freude am Monstrum neben der Spree vergällen. Sogar der Architekt gehört dazu. Die vom Hamburger Büro Gerkan, Marg & Partner (gmp) entworfene Bahnsteighalle steckt voller technischer Finessen, an denen die Prüfbehörde, das Eisenbahn-Bundesamt, zu knabbern hatte. Mit vier Jahren Verspätung wird der Bahnhof eingeweiht. Vielleicht wäre sogar erst 2009 oder 2010 gefeiert worden, hätte nicht Bahnchef Hartmut Mehdorn ein Machtwort gesprochen. Die Fußball-Weltmeisterschaft steht vor der Tür, und dann diese Großbaustelle - undenkbar! Schon der Wassereinbruch und ein organisatorisches Chaos in der Planungsgesellschaft Knoten Berlin hatten Unheil angerichtet; jetzt sollte der Termin nicht an dem verflixten Glasdach scheitern. Mehdorn bestimmte, es werde vorn und hinten abgeschnitten - um insgesamt 130 Meter -, denn dies bedeutete auch weniger Planung. Der Architekt war empört, nicht wegen der paar Fahrgäste der 1. Klasse, die bei Regen auf den unbedachten Bahnsteig aussteigen müssen, sondern weil die Ästhetik des Baukörpers gestört werde.
Der Architekt grollte noch, da traf ihn eine weitere Entstellung seines Werkes. Im unterirdischen Teil sollte ursprünglich eine Gewölbedecke für angenehme Stimmung sorgen. Der 450 mal 60 Meter große Raum, »der in dieser Größenordnung weltweit bislang nicht existierte«, bot die einmalige Gelegenheit, eine Decke wie für eine Kathedrale zu schaffen. Bezeichnet man nicht Bahnhöfe als Kathedralen des Verkehrs? Doch als 2003 der Innenausbau ausgeschrieben wurde, bevorzugte die Deutsche Bahn etwas Einfacheres, um Zeit und Geld zu sparen. Sie ließ unter die Betondecke eine hellgraue Flachdecke montieren, beleuchtet von »billigen Leuchtstoffröhren« statt der vom gmp-Büro erdachten Strahler. Diese »Einheitssoße ist das Widerlichste vom Widerlichsten«, so Meinhard von Gerkan. Er klagte wegen Verletzung des Urheberrechts. Der Rechtsstreit beschäftigte Architekten, Architekturkritiker und Journalisten gleichermaßen (»Endlich einer, der das Geld hat, sich gegen solche Eingriffe aufzulehnen!«). Allerdings: Bis das Gericht entschieden hat, ist der Bahnhof eröffnet und nichts mehr zu ändern.
Die Konstellation enttäuschter Architekt contra selbstbewussten Bauherrn gab es am Anfang nicht. Der damalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, Heinz Dürr, und Gerkan verstanden sich prächtig. Mehdorn dagegen soll dem Star-Architekten entgegengedonnert haben: »Ich hätte diesen Bahnhof nie so bestellt!« Eine Aussage, die sich auf die Dimension des Bauwerks bezog. Der Entwurf stammt aus einer Zeit, als Bahnchef Dürr, der Regierende Bürgermeister, Eberhard Diepgen, und andere Politiker in einer Euphorie über den neuen Regierungssitz und den Zuwachs der Metropole auf sechs Millionen Einwohner schwelgten. Der Schienenverkehr brauche neue Adern, hieß es. Täglich würden 746 Züge fahren, davon 251 durch den Tunnel.
Vor allem einer äußerte dagegen immer wieder Kritik: Michael Cramer, lange Zeit verkehrspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, aktuell Mitglied des Europa-Parlamentes. Er hielt das Pilzkonzept für Unsinn. Die zehn Milliarden Mark, die von der Bundesregierung kommen sollten, würden nur für den Tiergartentunnel und den Zentralbahnhof reichen. »Das Pilzkonzept wurde aus Kostengründen noch weiter abgespeckt«, schrieb Cramer bereits im Januar 1996. »Auf den Ausbau der nördlichen Radiale nach Rostock musste ebenso verzichtet werden wie auf den Ausbau der südlichen nach Dresden. Die Planung für einen Fernbahnhof Berlin-Gesundbrunnen konnte nur mit Mühe aufrechterhalten werden.«
Der Kardinalfehler der Bahnkathedrale: Der »Bahnhof aus der Retorte« sei so geplant worden, als gebe es in Berlin nur ein Stadtzentrum, so Cramer. Im Gegensatz zu anderen Metropolen habe Berlin aber eine dezentrale Stadtstruktur, die viele Vorteile mit sich bringe. Die Schlussfolgerung des Grünen-Politikers: »Im Eisenbahnfernverkehr wären eher Konzepte notwendig, die die Dezentralität betonen, anstatt künstlich einen Zentralbahnhof in eine dezentrale Stadtstruktur zu implantieren. Berlin ist so groß wie das Ruhrgebiet von Düsseldorf bis Gelsenkirchen beziehungsweise von Hamborn bis Bochum. Wie dort existieren auch in Berlin sechs InterCity-Bahnhöfe. Während allerdings im Ruhrgebiet niemand auf die Idee käme, Wanne-Eickel zum Zentralbahnhof auszubauen, soll in Berlin ein riesiger Kreuzungsbahnhof an der Stelle gebaut werden, wo die geplante unterirdische Nord-Süd-Achse die bestehende Ost-West-Achse kreuzt, ansonsten aber kein dem Zentralbahnhof angemessenes Umfeld vorhanden und auch nur eingeschränkt realisierbar ist.« Cramer meint, man hätte auf die neuen Verkehrsanlagen komplett verzichten, sich auf die Wiederherstellung der bestehenden Anlagen konzentrieren und die ausgewählte Nord-Süd-Trasse erst später bauen oder lediglich für zukünftige Generationen freihalten können.
Machtwort im Namensstreit
Es war wohl der Ehrgeiz der Politiker und eines Konzernvorstandes, sich mit einem »Regierungsbahnhof« ein Denkmal zu setzen. Als käme die Mehrheit der Politiker in Berlin mit dem Zug an. Dem entsprach auch der sinnlose Namenstreit, als die Bevölkerung sogar darüber abstimmen sollte, ob das neue Bauwerk Lehrter oder Hauptbahnhof genannt wird. Bestimmt wurde: Hauptbahnhof - basta! Lehrter Bahnhof darf nur als Zusatz auf dem S-Bahnsteig angebracht werden.
Natürlich soll der neue Bahnhof zum Großspektakel Fußball-WM in Betrieb sein. Manches wird zur Eröffnung aber wohl noch unfertig wirken. Projektleiter Hany Azer beteuert, eröffnet werde ein »funktionsfähiger Bahnhof«. In ihm wird bis 2007 weitergebaut. Es fehlen nämlich die bebaute Umgebung, die U-Bahn zum Alexanderplatz und die S-Bahn in Richtung Norden.
Trotzdem: In Berlin wird im Mai der erste Bahnhofsneubau in Deutschland seit 1991 gefeiert werden. Und viele Berliner werden wohl stolz auf ihn sein. Für Bahnchef Mehdorn ist er der Lackmustest für die Leistungsfähigkeit seines Konzerns, der große Börsenpläne hegt, kein Bahnhof nur für das Jahr 2006, sondern für die nächsten 50 Jahre. Das amerikanische Nachrichtenmagazin »Time« sieht den Hauptbahnhof sogar als das Symbol des wieder erstarkenden Deutschlands.
Strecken
Ab 28. Mai sollen zahlreiche Strecken am neuen Berliner Hauptbahnhof halten.
Im Nahverkehr bleiben auf der Stadtbahn die Züge der Linien
Magdeburg - Berlin - Eisenhüttenstadt,
Rathenow - Berlin - Cottbus und
Dessau - Berlin - Cottbus.
Auf direktem Weg zum Hauptbahnhof und weiter durch den Nord-Süd-Tunnel fahren die Züge der Linien
Schwedt/Stralsund - Berlin - Elsterwerda/Senftenberg,
Wismar - Wittenberge - Berlin - Jüterbog und
Rostock/Stralsund - Neustrelitz - Berlin - Lutherstadt Wittenberg.
Im Fernverkehr bleiben auf der Stadtbahn
bis 10. Dezember 2006 die ICE-Linie Berlin - Frankfurt (Main) - Basel,
die ICE-Linie Berlin - Hannover - Köln,
die IC-Linie Berlin - Hannover - Osnabrück, und
die EC-Linie Berlin - Warschau.
Den direkten Weg zum Hauptbahnhof und weiter durch den Tunnel fahren die Züge der
ICE-Linie Hamburg - Leipzig - München,
der IC/EC-Linie Hamburg - Dresden - Prag sowie
der IC-Linie Stralsund - Erfurt - Dortmund,
der IC-Linie nach Rostock und
ab 11. Dezember 2006 die ICE-Linie Berlin - Frankfurt (Main) - Basel.
Die Züge der Vogtlandbahn und von Connex halten auf dem Bahnhof Zoologischer Garten, nicht jedoch in Berlin Hauptbahnhof. EP
Chronik
September 1995: Planfeststellungsbeschluss Nord-Süd-Verbindung
Oktober 1995: Baubeginn Nord-Süd-Verbindung
September 1998: Grundsteinlegung Berlin Hauptbahnhof
September 1999: Fertigstellung der Humboldthafenbrücke
August 2001: Ost-West-Trasse komplett, Betonage des letzten Brückenelementes
Februar 2002: Richtfest für den ersten Dachbinder
Juli 2002: die erste S-Bahn hält an einem neuen Bahnsteig
September 2002: der Bahnhof erhält seinen neuen Namen: Berlin Hauptbahnhof-Lehrter Bahnhof
August 2004: erste Schienen werden im unterirdischen Teil verlegt
September 2004: die ersten der 54 elektrischen Fahrtreppen werden montiert
Juni 2005: Abschluss der Gleisbauarbeiten im Nord-Süd-Tunnel
August 2005: erstes Dachsegment für Nord-Süd-Dach wird gezogen
März 2006: Einweihung des Tiergartentunnels ND
Erich Preuß publiziert seit Jahren zu Themen rund um die Schiene. Von ihm stammen unter anderem die Dokumentationen »Der Reichsbahnreport« und »Eisenbahnunfälle in Europa«. Im April erscheint im Verlag transpress sein Buch »Berlin Hauptbahnhof«.
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