»Freiräume schaffen« - das Graffito auf der schmutzig-beigen Fassade scheint im Widerspruch zu den zugemauerten Fenstern zu stehen. Auf der gesamten Länge des Häuserblocks gibt es im Erdgeschoss keine »Freiräume« mehr.
Bis vor wenigen Jahren standen die Häuser an der Barmer Straße unter Denkmalschutz. Zwar sind sie keine altehrwürdigen Patriziervillen, wie man sie in Köln noch findet, aber für die Domstadt dennoch ein Meilenstein des Wohnungsbaus. Das Karree wurde zwischen 1913 und 1916 als bezahlbarer Wohnraum für Postangestellte errichtet und bot mit einem extra langen Innenhof den Bewohnern eine Oase der Ruhe.
Damit ist es vorbei. Der Denkmalschutz ist wegen »höherrangiger Interessen« aufgehoben, die meisten Bäume im Innenhof sind gefällt und sämtliche Altbewohner des Barmer Viertels sind umgesiedelt worden, weil sie der geplanten Nutzung im Wege standen. Vor vier Wochen sind gut 50 neue Bewohner eingezogen, und es werden ständig mehr.
»Unser Protest richtet sich dagegen, dass preiswerter Wohnraum vernichtet wird«, begründet Elke die Hausbesetzung. Die 48-Jährige hat sich ihre Wohnung mit Balkon und Sitzbadewanne gesichert, hält sich aber die meiste Zeit in einem Bauwagen auf dem Barmer Platz auf, der als Informationszentrum der Besetzer dient. Der ist leichter zu heizen als der von der Strom- und Wasserversorgung abgeklemmte Häuserblock. Im Bauwagen sitzt auch Thomas, Mitte 20, eine Art Pressereferent der Besetzer. Er hat schon bei Hausbesetzungen in Düsseldorf und Aachen mitgemacht und findet, dass sich im Barmer Block eine »ganz bunte Truppe« eingenistet hat.
Zu der gehört auch Lüder, 65. Bis November letzten Jahres war er noch Beamter in der Bundesagentur für Außenwirtschaft. Als der Pensionär in der Zeitung von der Besetzung las, packte er seine Sachen und zog ins Barmer Viertel. »Für mich ist es ein Skandal erster Güte, dass man 381 intakte Wohnungen einfach kaputt machen will, bevor man weiß, was man mit dem Gelände vorhat.«
Elke gießt lauwarmes Wasser in die Plastiktassen. Seit einem Schlaganfall ist sie »Erwerbsunfähigkeitsrentnerin«. »Mein Vermieter hat mir unterstellt, ich sei ein Messie und wollte mich rausklagen. Jetzt bin ichs leid und möchte hier leben, wohnen und arbeiten« - auch wenn »die Stimmung zwischen Hoffnung und Resignation schwankt«.
Sämtliche zur Straße liegenden Haustüren des Barmer Viertels sind von innen verbarrikadiert. Nur durch eine blau, gelb, rot und grün umrandete Haustür an der Deutz-Mülheimer Straße führt der Weg zu den Besetzern. Dadurch können sie einigermaßen den Überblick behalten, wer sie besucht. Eine Erdgeschoss-Wohnung haben die Besetzer als Zentrale mit Teeküche und Gruppenraum eingerichtet. An der Wand hängt ein goldgerahmtes Bild, auf dem die Mutter Gottes das Jesuskind im Arm hält. In einigen Stunden wird hier die Vollversammlung der Besetzer stattfinden. »Wer nicht kommt, der fliegt«, verkündet ein Typ mit Pelzmütze und betont die Wichtigkeit des Plenums: »Wir werden alles diskutieren: die Gewaltfrage und wie wir mit der Polizei umgehen. Wir wollen keine Gewalt, wir wollen deeskalieren.«
»Wenn hier am Wochenende Party oder Konzert ist«, erklärt Thomas, »weiß man nicht so genau, wer alles rumläuft«. Der Besetzer mit Pelzmütze ist der Auffassung, man werde im Barmer Viertel »von morgens bis abends bedroht. Wir haben hier die rechte Szene im Haus«. Sabine bringt die Diskussion wieder zurück auf die lokalpolitische Ebene. »Es muss doch irgendjemand aufstehen und sagen, was in Köln läuft. Wir haben hier in Windeseile Gegendruck erzeugt, aber wir bräuchten etwas mehr Zeit.«
Die 30-jährige Pädagogin blickt »mit totalem Respekt« auf die Ratssitzung am 4. April, bei der sich die Zukunft des Viertels entscheiden könnte. SPD und CDU, seien geschlossen für den Abriss, und auch die Fraktions-Chefin der Grünen, Barbara Moritz, sei entgegen ihrer Basis dafür. Allein die Linksfraktion hat sich gegen den Abriss ausgesprochen.
Manche der Besetzer fürchten, dass die Ratsmitglieder einen Entschluss ohne die notwendige Sachkenntnis fällen. Rainer Kippe von der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM), einer der politischen Köpfe hinter der Besetzung, sagt, dass viele SPD-Leute die Wohnungen im Barmer Viertel für unbrauchbar hielten, obwohl sie sie gar nicht angeschaut hätten.
Wer vor Ort ist, kommt zu einem ganz anderen Schluss. Alle Fenster im Barmer Block haben einen Kunststoffrahmen und sind wegen des nahen Bahnhofs schallisoliert. Das Dach befindet sich in gutem Zustand. Viele Badezimmer sind gefliest, haben Wannen und scheinen erst vor wenigen Jahren modernisiert worden zu sein. Auffällig sind die Löcher in den Dielen und herausgetrennte Kupferrohre in einigen Wohnungen. Für diese Schäden seien der Erbbauverein Köln, früherer Eigentümer des Blocks, und Plünderer verantwortlich, so die Besetzer.
Jusos und Grüne Jugend proben derzeit den Aufstand gegen die etablierten Parteimitglieder und haben sich an der Hausbesetzung beteiligt. In einem offenen Brief an die SPD-Ratsfraktion bitten die Jungsozialisten die »lieben Genossinnen und Genossen« dringend, keiner »überhasteten Entscheidung über einen Abriss der Wohnungen« zuzustimmen. »Wenn Rot-Grün die besetzten Häuser räumen lässt, dann müssen sie gegen ihre eigenen Leute vorgehen«, sagt Rainer Kippe mit einem leichten Schmunzeln, das andeutet, dass er sich ein solches Szenario kaum vorstellen kann. »Wenn der Rat auf den Abriss verzichtet, kommen wir ihm insofern entgegen, dass wir ihn nicht vorführen.«
Das geplatzte Mammut-Projekt im Barmer Viertel könnte die Öffentlichkeit bald schon als millionenschweren Bau-Skandal wahrnehmen, an dem der unheilige Klüngel aus Stadtverwaltung, Politik und Wirtschaft schuld ist. Das Filetgrundstück zwischen Deutzer Bahnhof und Messe, in Sichtweite des Kölner Doms, hatte die Stadt vor fünf Jahren für 66 Millionen Euro in der Hoffnung gekauft, es mit Bürotürmen, einem ICE-Bahnhof, einem Kongresszentrum und einem neuen Messe-Eingang zu bebauen. Als die UNESCO drohte, dem Dom dann den Status des Weltkulturerbes zu entziehen, gaben die Kölner die Pläne murrend auf. Die Folge: Die Stadt wird bei einem Verkauf an Investoren, die auf dem Gelände nur noch flache Gebäude und Parkplätze errichten dürfen, gerade mal einen Bruchteil der Kaufsumme erzielen. Zum Schleuderpreis von 16 Millionen Euro soll nun der größte Teil des Geländes verkauft werden, obwohl allein der Bodenwert auf 23 Millionen Euro veranschlagt wird. Auf alternative Vorschläge für eine Zwischennutzung sind maßgebliche Politiker und die Stadtverwaltung bisher nicht eingegangen. Zum Beispiel könnte sich das Kölner Studentenwerk vorstellen, in einem Teil der Siedlung Studentenwohnungen einzurichten.
Immer wieder sind Besetzer mit Kanistern unterwegs, um Wasser zum Kochen und Benzin für die kleinen Generatoren zu holen. Am Anfang der Besetzung lagen die Außen- und Innentemperaturen noch um den Gefrierpunkt. »Da habe ich gemerkt, dass ich zu wenig Klamotten dabei habe«, erzählt Yvonne, eine 19-Jährige Studentin, die sich in der Porzer Selbsthilfe gegen Wohnungsnot engagiert. Sie empfindet die Hausbesetzung, ihre erste, als »viel Arbeit. Es gibt Leute bei uns, die nicht einfach sind. Unsere Gemeinschaft ist sehr individuell.«
Seit zwei Wochen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Stadt Köln. Rainer Kippe und sein Kollege vom SSM, Martin Massip, haben Strafanzeige gestellt wegen »des Verdachts auf Veruntreuung kommunaler Haushaltsmittel bezüglich des Barmer Viertels«. Kern des Vorwurfs: »Die Stadt hat mit öffentlichen Mitteln spekuliert und finanzielle Risiken für die Messe-Gesellschaft übernommen.« Das darf sie aber nicht, da diese privatrechtlich organisiert sei. Massip, mit einem mächtigen Rauschebart à la Karl Marx ausgestattet, sekundiert: »Erst hat die Stadt das Barmer Viertel grundlos gekauft, jetzt will sie es grundlos abreißen.«
Elke rekelt sich vor dem warmen Ofen im Bauwagen. »Jeder Tag, den wir nicht geräumt werden, ist ein Hoffnungsmoment.« Und dann fällt ihr noch eine Geschichte ein, die eigentlich nichts anderes als ein gutes Omen sein kann. »Gestern Nacht hat ein Kampfhund an meiner Seite gepennt. Der war früher Polizeihund und ist zu uns übergelaufen.«