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Osama bin Laden und der islamistische Terror
Am Bild eines global agierenden Netzwerkes sind erhebliche Zweifel angebracht
Die vom USA-Außenministerium jährlich erstellte und ständig aktualisierte Liste der »Foreign Terrorist Organizations«, die angeblich die nationalen Interessen oder die Sicherheit der USA bedrohen, weist derzeit 28 Namen auf. 17 dieser Organisationen sind in islamischen Ländern beheimatet, und wenigstens neun davon sind religiös-fundamentalistisch. Sechs der aufgelisteten Organisationen sind palästinensisch, als siebte ist die libanesische Hisbollah demselben Konfliktfeld zuzurechnen. Mehrere der in der Liste genannten Organisationen sind schon seit Jahren nicht mehr mit Anschlägen in Erscheinung getreten. Einige - wie die palästinensische »Abu-Nidal-Organisation« (Selbstbezeichnung: Fatah-Revolutionsrat) und die japanische Sekte Aum Shinrikyo (die 1995 Giftgas-Anschläge in der U-Bahn von Tokio mit mehreren Toten verübte) existieren vermutlich überhaupt nicht mehr. Eine Vernetzung der islamistischen Terrororganisationen, in dem Sinne, dass sie ihre Aktionen koordinieren oder gar einer zentral festgelegten gemeinsamen Strategie folgen, war und ist nicht zu erkennen. Dass sich in bin Ladens Gruppe Al Qaida ehemalige Führungskader aus mehreren Organisationen und Ländern zusammengefunden haben, drückt weniger eine Vernetzung als vielmehr die desolate, perspektivlose Situation des islamistischen Terrorismus in ihren Heimatländern aus. Dass es überhaupt zu Ansätzen einer internationalen Vernetzung des islamistischen Terrorismus kam, ist in erster Linie auf die Politik der USA zurückzuführen.
Mit der vermutlich größten Geheimdienst-Operation seit Ende des Zweiten Weltkriegs, mit einem Etat von vielen Milliarden Dollar, steuerte die USA-Regierung in den 80er Jahren die Rekrutierung und Ausbildung von Mudschahedin, »Heiligen Kriegern«, in allen Ländern der islamischen Welt. Einsatzgebiet: Afghanistan. Ziel: Schwächung der Sowjetunion. Bin Ladens politische Laufbahn begann als Organisator und Finanzier einer internationalen Kette solcher Rekrutierungsbüros. Eines seiner Büros lag damals sogar in Brooklyn, mitten in New York. Die Ausbildungslager der Mudschahedin in Afghanistan und Pakistan, in Jemen und Sudan, wurden in erster Linie finanziert von den USA, in engster Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Geheimdienst. Zum Dank flossen Milliarden Dollar ins bankrotte Pakistan, das derzeit mit 37 Milliarden Dollar verschuldet ist.
Der von den USA angeschobene und instrumentalisierte »Heilige Krieg« gegen die Sowjetunion führte in Afghanistan Tausende von religiösen Eiferern und Abenteuerlustigen aus Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan, Jemen, Algerien, aus Teilen der Sowjetunion wie Tadschikistan und Tschetschenien und sogar aus Jugoslawien und Albanien zusammen. Die Idee einer internationalen islamischen Kampfgemeinschaft, in der staatlichen Realpolitik autoritärer Regimes bisher nicht mehr als eine schillernde Seifenblase und eine verlogene Propagandaformel, nahm im afghanischen Dschihad, »powered by USA«, erstmals praktische Gestalt an. Von Afghanistan aus wirkte die gemeinsame Kampferfahrung zurück auf die zahlreichen Herkunftsländer der Mudschahedin. Das verstärkte sich naturgemäß nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte Ende der 80er Jahre, als Tausende von »arbeitslos« gewordenen Kämpfern in die Heimat zurückfluteten und dort den Kampf fortsetzten. Ob Tschetschenien oder Bosnien, Kosovo oder Kaschmir: Überall spielten die Afghanistan-Veteranen eine entscheidende Rolle. Sie brachten aus Afghanistan nicht nur ihre Kampferfahrung mit, sondern auch die Gewissheit, dass selbst eine Weltmacht militärisch zu besiegen sei.
Man mag geneigt sein, angesichts der islamistischen Angriffe gegen USA-Einrichtungen auf der arabischen Halbinsel und in Ostafrika, bis hin zu den Anschlägen vom 11. September im Herzen der USA, an Goethes Zauberlehrling zu denken, der die von ihm selbst geschaffenen Kräfte nicht mehr beherrscht. Aber vielleicht unterschätzt eine solche Interpretation die strategische Fähigkeit der zentralen US- amerikanischen Institutionen, die Folgen ihrer eigenen Handlungen vorauszusehen und zu steuern. Die stärkste Militärmacht der Welt, die zugleich der größte internationale Waffenhändler ist, benötigt zwingend einen Hauptfeind, nachdem ihr die Sowjetunion abhanden gekommen ist. Dieser Feind wurde im islamistischen Terrorismus nicht nur gefunden, sondern teilweise selbst erschaffen. Das drückt sich auch in der Tatsache aus, dass von den derzeit sieben »Schurkenstaaten« auf der offiziellen Liste der US-Regierung fünf zur islamischen Welt gehören: Iran, Irak, Libyen, Sudan und Syrien; die anderen beiden sind Korea und Kuba.)
Im Gegensatz zu dem Bild, das von der Propaganda der USA und ihrer Verbündeten gezeichnet wird, ist festzustellen, dass - abgesehen von den Sonderfällen Palästina-Israel und Kaschmir - die terroristisch agierenden islamistischen Organisationen in einer isolierten und perspektivlosen Position sind. Teilweise sind sie zerschlagen worden oder haben als Folge schwerer Niederlagen den bewaffneten Kampf aufgegeben und bemühen sich um politische Wirkungsmöglichkeiten.
Saudi-Arabien: Saudi-arabische Kreise spielen bei der - insbesondere auch finanziellen - Unterstützung militanter islamistischer Gruppen weltweit eine zwar undurchsichtige, aber mutmaßlich einflussreiche Rolle. Auch die Tatsache, dass nach Erkenntnissen des FBI 15 der 19 direkt Beteiligten an den Anschlägen vom 11. September saudi-arabischer Herkunft waren, ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Zwei schwere Bombenanschläge auf USA-Militäreinrichtungen in Saudi-Arabien werden von der USA-Regierung dem »Terrornetzwerk« bin Ladens zugeschrieben: Am 13. November 1995 auf eine Militäreinrichtung in der Hauptstadt Riad (mit über 40 Toten, darunter jedoch nur ein USA-Bürger) und am 25. Juni 1996 auf eine Wohnanlage der US-amerikanischen Truppen, die Khobar Towers. Bei diesem Anschlag starben 19 USA-Soldaten; 515 Menschen, darunter 240 Angehörige und (überwiegend arabische) Angestellte der Streitkräfte wurden verletzt. Die angeblichen Täter gehörten einer einheimischen Gruppe an. Das Regime ließ sie öffentlich hinrichten, ohne dem FBI und CIA, wie von diesen gewünscht, Gelegenheit zu geben, sie zu verhören.
Jemen: Das Land war lange geteilt in zwei Staaten und geprägt vom Bürgerkrieg. Die USA-Regierung unterstützte, gemeinsam mit Saudi-Arabien, die fundamentalistischen Stämme des Nordjemen gegen die Volksrepublik im Süden. In dieser Phase waren auch Kämpfer islamistischer Gruppen aus anderen Ländern, beispielsweise Ägypten, im Jemen gern gesehen. Militante jemenitische Organisationen schickten - mit Hilfe der CIA und des pakistanischen Geheimdienstes - Tausende Mudschahedin nach Afghanistan. Zudem diente das Land als Durchgangsstation für Kämpfer aus anderen Ländern für den »Heiligen Krieg« gegen die Sowjetunion in Afghanistan. Islamistische Kämpfer - neben Einheimischen auch zahlreiche zurückkehrende »Afghanistan-Veteranen« aus anderen Ländern - verhalfen 1994 den von den USA unterstützten Konservativen zum Sieg im Bürgerkrieg. Am 12. Oktober 2000 steuerten Selbstmord-Attentäter ein mit Sprengstoff voll gestopftes Boot gegen den im Hafen von Aden liegenden USA-Zerstörer »Cole«. Bei der Explosion kamen 17 Soldaten ums Leben. Die USA-Regierung schreibt den Anschlag dem bin Ladens Netzwerk zu, obwohl dafür keine Indizien bekannt wurden.
Ägypten: Al Dschihad ist die Organisation, die 1981 den Präsidenten Sadat ermordete, nachdem er Frieden mit Israel geschlossen hatte. Al Dschihad konzentrierte sich auf Anschläge gegen hochrangige Beamte und Politiker. In der Folge wurden Tausende ihrer Anhänger eingesperrt oder getötet. Seit 1993 ist sie in Ägypten nicht mehr mit terroristischen Aktionen in Erscheinung getreten. Statt dessen tauchten ehemalige Kämpfer der Organisation an vielen anderen Schauplätzen auf. Zawahiri, der als bin Ladens Stellvertreter in Al Qaida gilt, war früher ein führender Funktionär des ägyptischen Dschihad.
Die zweite bedeutende terroristische Organisation Ägyptens ist Al-Gamaat al-Islamija, die Islamische Vereinigung. Sie erregte durch Angriffe auf ausländische Touristen und Massaker unter der christlichen Minderheit des Landes Aufsehen. Auf ihr Konto kommt als spektakulärste Tat die Ermordung von 57 Touristen in Luxor im November 1997. Die Gamaat al-Islamija ist seit August 1998 nicht mehr mit Aktionen in Erscheinung getreten. Teile ihrer Führung verkündeten 1999 einen einseitigen Waffenstillstand. Auch diese Organisation ist durch die staatlichen Repressionsmaßnahmen stark angeschlagen und durch eine Spaltung geschwächt.
Algerien: Die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) gewann an Bedeutung, nachdem die algerische Staatsführung sich weigerte, das Ergebnis der Parlamentswahl vom Dezember 1991 zu akzeptieren, bei der die fundamentalistische Islamische Heilsfront (FIS) zur stärksten Partei geworden war. Die GIA beging zahlreiche Morde an Journalisten, Intellektuellen, Politikern und in Algerien lebenden Ausländern. Auch Massaker unter der Bevölkerung, bis hin zur Abschlachtung ganzer Dörfer, kamen auf ihr Konto. Sie hat sich mit ihrem Vorgehen weitgehend isoliert und ist zudem durch staatliche Gegenmaßnahmen schwer getroffen.
Palästina: Die stärkste islamistische Organisation Palästinas, Hamas, verbindet Selbstmordanschläge gegen israelische Ziele - überwiegend ziviler Natur, wie Busse, Märkte, Discos - und andere Formen des »bewaffneten Kampfs« mit einer umfassenden politischen und sozialen Tätigkeit in der palästinensischen Gesellschaft. Sie besitzt daher eine starke Massenbasis und stellt eine handlungsfähige Konkurrenz zur Politik Yasser Arafats und der Palästinensischen Nationalen Autorität (PA), der Keimform künftiger Staatlichkeit, dar. Israel wirft der PA vor, zu wenig gegen die Aktivitäten der Hamas zu unternehmen, und beansprucht daher unter expliziter Berufung auf das Vorbild der USA das Recht, militärisch gegen die PA vorzugehen.
Libanon: Die schiitische Hisbollahwar jahrelang die effektivste unter allen islamistischen Organisationen der Welt, soweit es ihre Angriffe gegen militärische Ziele der USA und Israels angeht. Die Hisbollah führte die massiven Bombenanschläge gegen die USA-Streitkräfte in Beirut im Oktober 1983 und gegen die US-amerikanische Botschaft im September 1984 durch, die die Amerikaner schließlich zum Abzug aus dem Libanon veranlassten. Auch der Rückzug Israels aus dem Libanon ist wesentlich dem Kampf der Hisbollah zuzuschreiben. Heute ist sie eine legalisierte politische Kraft, die im Beiruter Parlament vertreten ist. Die libanesische Regierung verweigert sich bisher der Forderung Washingtons, mit Kontensperrung und anderen Maßnahmen gegen die Hisbollah vorzugehen. Es ist damit zu rechnen, dass die USA im Zuge ihres langfristig angelegten »Kriegs gegen den Terror« den Druck auf Libanon steigern.
Pakistan/Indien: In der von Pakistan beanspruchten Kaschmir-Region Indiens sind mehrere, teilweise einander bekriegende, islamistische Kampforganisationen tätig. Aber nur eine von ihnen, die Harakat ul-Mudschahiddin (HUM), steht auf der Liste des US-amerikanischen Außenministeriums. Der HUM wird Zusammenarbeit mit den Taleban und Al Qaida vorgeworfen, weil sie Ausbildungslager in Afghanistan unterhält oder, wie man jetzt wohl sagen muss, unterhielt. Alle in Kaschmir tätigen Kampforganisationen, einschließlich der HUM, arbeiten eng mit dem pakistanischen Geheimdienst und dem Militärregime zusammen. Die indische Regierung hat deshalb die USA aufgefordert, analog zur Kriegführung gegen die Taleban demnächst auch gegen Pakistan vorzugehen. Das pakistanische Militärregime, das sich im Oktober 1999 an die Macht putschte, hat seit Beginn der USA-Kriegführung gegen Afghanistan die legalen politischen Wirkungsmöglichkeiten der starken islamistischen Opposition erheblich eingeschränkt. Es wäre daher nicht verwunderlich, wenn künftig Teile dieser Opposition zu bewaffneten Aktionen übergehen würden.
Philippinen: Auf Mindanao und mehreren kleineren südlichen Inseln der Philippinen ist seit vielen Jahren die muslimische Moro Nationale Befreiungsfront militärisch aktiv. Von dieser spaltete sich 1991 die Abu Sayyaf ab. Sie ist bei weitem die kleinere der beiden Organisationen, ihre Stärke wird von offiziellen US-amerikanischen Stellen auf lediglich 200 oder einige hundert geschätzt. Dennoch steht nur sie auf der schwarzen Liste des Außenministeriums. Abu Sayyaf tritt in erster Linie mit der Entführung ausländischer Terroristen in Erscheinung.
Usbekistan: Ein hochinteressanter Neuzugang auf der Liste des amerikanischen Außenministeriums ist die Islamische Bewegung Usbekistans. Sie wird von den Behörden des Landes mit fünf Autobomben in Verbindung gebracht, die im Februar 1999 in der Hauptstadt Taschkent explodierten. Ihre Aufnahme in die Liste »Ausländischer terroristischer Organisationen«, die angeblich die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten bedrohen, ist lediglich durch die Entführung von vier US-amerikanischen Bergsteigern im August 2000 begründet. In erster Linie dokumentiert die USA-Regierung mit der Erwähnung dieser allen vorliegenden Erkenntnissen nach unbedeutenden Gruppe ihren Anspruch und ihre Entschlossenheit, auch auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion ihre »nationalen Interessen« geltend zu machen.
China: Aus der westchinesischen Provinz Xinjiang, in der rund acht Millionen muslimische Uiguren leben, werden seit dem 11. September mehrere Hinrichtungen und zahlreiche Verhaftungen gemeldet. Offiziell behauptet die chinesische Regierung, dass Hunderte uigurischer Separatisten in afghanischen Lagern unter Kontrolle von bin Ladens Al Qaida ausgebildet worden seien. Die Politik Pekings gegen die nicht-chinesische Muslim-Minderheit ist traditionell repressiv geprägt. Es ist daher nicht einzuschätzen, ob es in China tatsächlich nennenswerte bewaffnete islamistische Aktivitäten gibt, oder ob die Regierung lediglich die weltpolitische Konjunktur seit dem 11. September benutzt, um mit internationaler Duldung verstärkt gegen muslimische Gruppierungen vorzugehen.
Russland: Ende Oktober haben Gespräche zwischen russischen Regierungsvertretern und dem von vielen Tschetschenen als legitimen Präsident betrachteten Aslan Maschadow begonnen. Aus russischer Sicht kann es dabei nur um die Modalitäten einer Entwaffnung und Wiedereingliederung der tschetschenischen Rebellen gehen, während die Politiker um Maschadow dies nur als einen unter mehreren Verhandlungspunkten sehen. Mehrere islamistische Feldkommandeure, wie Bassajew und der aus Jordanien stammende Chattab, hinter denen wohl einige hundert tschetschenische Kämpfer stehen, haben sich von den Gesprächen distanziert. Insgesamt erscheinen die militärischen Handlungsmöglichkeiten der tschetschenischen Rebellen sehr beschränkt, zumal sich seit dem 11. September der Moskauer Standpunkt zum Konflikt eines größeren Verständnisses bei den westlichen Regierungen erfreut.
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