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Auch «schlechte» Gene haben ihre guten Seiten

Forscher befürchten: Ein Verlust an genetischer Vielfalt macht uns anfälliger für Infektionskrankheiten

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Martin Koch

Wir kennen heute etwa 5000 Krankheiten, die auf einem genetischen Defekt beruhen. Die meisten davon werden durch rezessive Gene verursacht und kommen nur dann zum Ausbruch, wenn jemand sowohl vom Vater als auch von der Mutter die schadhafte Version geerbt hat. Ein Beispiel dafür ist die so genannte Mukoviszidose, eine schwere Stoffwechselstörung, bei der zähflüssiger Schleim sowohl die Lunge als auch die Verdauungsorgane zerstört. Auslöser der Krankheit ist ein mutiertes Gen auf Chromosom 7 welches den Aufbau eines intakten Chlor-Ionen-Kanals in den Zellmembranen verhindert und damit den Salz- und Wasseraustausch in den Bronchien und im Darm massiv beeinträchtigt.

Ist das krankmachende Gen hingegen dominant, genügt davon bereits eine schadhafte Kopie, um die Krankheit her vorzurufen. Wie beispielsweise bei Chorea Huntington, einem tödlichen Nervenleiden, das früher Veitstanz genannt wurde. Bei sämtlichen Trägern des Chorea-Huntington-Gens, das auf Chromosom 4 liegt, kommt es zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr zu einer Degeneration der Hirnzellen, die schließlich zum vollständigen geistigen und körperlichen Verfall führt.

Unter diesen Umständen drängt sich natürlich sofort die Frage auf, warum das Chorea-Huntington-Gen von der Evolution nicht schon längst eliminiert worden ist. Hat die natürliche Selektion hier womöglich schlampig gearbeitet? Die Evolutionsmediziner Randolph M. Nesse und George C. Williams bestreiten das: «Die natürliche Selektion arbeitet nur für Gene, die im Hinblick auf den Fortpflanzungserfolg einen Vorteil bedeuten - selbst dann, wenn dieselben Gene die Anfälligkeit für eine bestimmte Krankheit erhöhen.» Danach kann die Evolution das Chorea-Huntington-Gen gar nicht vollständig beseitigen, da sich dessen Wirkungen gewöhnlich erst im post-reproduktiven Alter bemerkbar mache›n. Studien haben sogar gezeigt, dass Frauen, die im späteren Leben an Chorea Huntington erkrankt sind, zuvor überdurchschnittlich viele Kinder bekamen.

Anders liegen die Verhältnisse beim Mukoviszidose-Gen, vor allem wenn dessen Träger heterozygot sind. Das heißt, wenn sie in ihrem Erbgut sowohl eine defekte als auch eine gesunde Version dieses Gens besitzen. Obwohl solche Menschen nicht selbst an Mukoviszidose erkranken, tragen sie eine genetische Zeitbombe in sich, unter deren schlimmen Folgen möglicherweise ihre Nachkommen zu leiden haben. Immerhin ist heute bereits jeder zwanzigste Europäer von diesem Gendefekt betroffen. Schon vor Jahren äußerte der amerikanische Molekularbiologe Francis Collins die Vermutung, dass die vergleichsweise große Verbreitung des rezessiven Mukoviszidose-Gens einen ver borgenen Nutzen haben muss.

Das klassische Beispiel für eine Krank heit, die auf einem Gendefekt beruht, der bisweilen hilfreich sein kann, liefert die so genannte Sichelzellenanämie. Bei homozygoten Personen, die das krankmachende Gen in doppelter Ausführung besitzen, werden die roten Blutkörperchen sichelförmig deformiert und verstopfen somit die Blutgefäße. Es kommt zu Blutungen, Kurzatmigkeit und Bauchkoliken. Viele Erkrankte sterben bereits vor der Geschlechtsreife. Heterozygote Genträger haben ein solches Schicksal nicht zu gewärtigen. Sie sind zwar in ihrer Leistungsfähigkeit gemindert, erkranken dafür aber praktisch nicht an Malaria. Denn unter dem Einfluss des schadhaften Gens werden die infizierten Zellen rasch aus dem Blutkreislauf entfernt. Das erklärt, warum das Sichelzellen-Gen in tropischen Malariagebieten sehr viel häufiger vor kommt als in Regionen, in denen die Malaria keine Rolle spielt.

Die Vermutung, dass auch im Falle der Mukoviszidose ein Heterozygotenvorteil existiert, wurde unlängst von Gerald B. Pier von der Harvard Medical School in Boston bestätigt. Heterozygote Träger des Mukoviszidose-Gens sind vor Typhus geschützt. Denn der Erreger dieser Infektionskrankheit, das Bakterium Salmonella typhi, benötigt den gesunden Chlor-Ionen- Kanal, um in die Zellen der Darmschleimhaüt einzudringen. In Experimenten mit genetisch veränderten Mäusen stellte Pier fest, dass in einem durch das Mukoviszidose-Gen geschädigten Chlor-Ionen-Kanal die Gefahr einer Typhusinfektion um 86 Prozent vermindert war.

Ähnlich ambivalent wirken die Gene beim so genannten Tay-Sachs-Syndrom: Homozygote Kinder sterben an dieser fortschreitenden Degeneration des Ner vensystems zumeist vor dem vierten Lebensjahr. Hingegen sind die Träger nur eines Tay-Sachs-Gens weitgehend vor Tuberkulose geschützt. An dieser bis heute gefürchteten Volksseuche erkranken auch jene nicht, die eine genetische Veranlagung für Osteoporose besitzen. In der Geschichte der menschlichen Entwicklung wog das gehäufte Auftreten von Knochenbrüchen begreiflicherweise weniger schwer als das Massensterben von Tuber kulose-Kranken in den Elendsvierteln vieler Großstädte.

«Schlechte» Gene schützen sogar vor Aids. So besitzen etwa 10 Prozent aller Europäer einen Defekt ihres Immunsystems, den sie unter normalen Umständen nicht bemerken, der sie aber weitgehend resistent gegen das tödliche HI-Virus macht. Gibt es vielleicht auch genetische Barrieren gegen die neue Form der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die durch BSE-Prionen hervorgerufen wird? Nor malerweise enthalten die Molekülketten, aus denen Prionen bestehen, an einer bestimmten Stelle eine von zwei Aminosäuren: Valin bzw. Methionin. Bisher haben sich jedoch nur Menschen mit BSE infiziert, deren Gene ausschließlich Methionin-Prionen codierten. Das sind etwa 37 Prozent der europäischen Bevölkerung. Hingegen trat die ältere Form der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, wenngleich in geringerer Häufigkeit, auch bei Personen mit Valin-Prionen auf. Nur war hier die Inkubationszeit bedeutend länger. Ob dies auch bei der neuen Form so ist, muss beim gegenwärtigen Stand des Wissens offen bleiben.

Trotz aller Fortschritte in der Medizin, stellen Infektionskrankheiten weltweit noch immer die häufigste Todesursache dar. Nichts wäre deshalb fahrlässiger, als zum Zwecke der «Verbesserung» unseres Erbguts daraus alle krankmachenden Gene entfernen zu wollen. Ob ein Gen gut oder schlecht sei, lasse sich bestenfalls für die Gegenwart entscheiden, betont der Münchner Molekularbiologe Jürgen Brosius: «Unter anderen Bedingungen, wie verändertem Klima, könnten Gene, die wir heute so schnell wie möglich loswer den wollen, lebenswichtig werden.» Die genetische Vielfalt der Menschen ist also keine Bürde der Evolution, wie Eugeniker meinen, sondern der sicherste Schutz vor den gesundheitlichen Gefahren einer ungewissen Zukunft.

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