- Politik
- Das Schicksal einer Familie aus Schöneck
Die Juden und der Bürgermeister
Im Jahr 1933 lebten in Schöneck sechs Juden - drei Generationen einer Familie, der Familie Berger/Blitz. Sie betrieben die Obervogtländische Korbwarenfabrik in der Nähe des Unteren Marktes. Aus Akten der Stadtarchive Schöneck und Plauen lässt sich ihr Schicksal in groben Zügen nachzeichnen. Eine typische und doch einmalige Geschichte aus dem Deutschland unterm Hakenkreuz.
Das Familienoberhaupt der einzigen jüdischen Familie im vogtländischen Schöneck, Hugo Berger, stammte aus Pszczyna (Pless) bei Kattowitze. Diese Ecke Europas war, nachdem Österreich, Preußen und Russland den polnischen Staat vernichtet und unter sich aufgeteilt hatten, zu Preußen gekommen. Hier lebten die unterschiedlichsten Völkerschaften nebeneinander. Vielfältig waren ihre religiösen Bekenntnisse. Etwa sechs bis zehn Prozent waren chassidische Juden. Der Nationalität nach bezeichneten sie sich zumeist als Deutsche. Ihre Sprache war das aus dem Mittelhochdeutschen unter Aufnahme hebräischen und slawischen Wortgutes entstandene Jiddisch. Ihr Leben war nicht leicht. Gegen Ende des 19 und zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten soziale und politische Spannungen zu Pogromen. Viele junge Juden wanderten aus.
Auch Hugo Berger verließ um 1890 seine Heimat. Über Wolmirstedt kam er nach Mühlhausen in Thüringen. Dort heiratete er Rosa Sabor. Das Paar zog zurück nach Wolmirstedt, wo 1894 Tochter Elfriede geboren wurde. Kurze Zeit lebten sie dann in Falkenstein. Seit 1909 schließlich sind sie in Schöneck gemeldet. Ob sie die Ober vogtländische Korbwarenfabrik selbst gründeten oder sie aus anderer Hand übernahmen, lässt sich nicht mehr exakt feststellen. Doch zufällig dürfte ihr Zuzug ins Vogtland nicht gewesen sein, denn Rosas Schwester Selma lebte schon vor 1900 in Falkenstein und später in Plauen.
1904 wanderte dann ein anderer junger Mann, genannt Jakob Blitz, aus Proszowa bei Krakau nach Sorau in der Niederlausitz aus. 1920 kam er nach Schöneck. Hier heiratete er Elfriede Berger und wurde Miteigentümer der Korb waren-Firma. Die beiden bekamen zwei Töchter. Alice und Ulrike gingen in Schöneck zur Schule und hatten viele Freundinnen. Einmal in der Woche besuchten die Mädchen den israelitischen Religionsunterricht. Er wurde in Falkenstein, in einem Hintergebäude der Gartenstraße, für Kinder jüdischer Eltern aus dem östlichen Vogtland erteilt. Die Familie lebte glücklich und zufrieden.
Dann rissen die Nazis die Macht an sich. Nun erfuhr auch die einzige jüdische Familie in Schöneck antisemitische Ressentiments. Sie wurde mehr und mehr isoliert. Bekannte, die noch Kontakte zu ihr pflegten, wurden von den Behörden ver folgt und zu Verhören bestellt. Die umgeschlagene Stimmung, die vollkommene Veränderung ihres Umfeldes blieben für die Familienangehörigen nicht ohne Folgen. Mutter Elfriede Blitz erkrankte schwer. Als sie im Mai 1938 im Plauener Krankenhaus verstarb, diagnostizierte der Arzt als Todesursache akute Herz- und Kreislaufschwäche sowie hochgradige nervöse Erschöpfung. Vater und Großeltern versuchten nun, die Mädchen Alice und Ulrike aus Deutschland in die rettende Fremde zu schicken. Sie ließen die beiden zunächst entsprechende Lehrgänge besuchen. Ulrike nahm bereits im Frühsommer 1939 an einem landwirtschaftlichen Lehrgang auf dem Gut Winkel im Kreis Beeskow teil. Die hier vermittelten Kenntnisse und Fertigkeiten sollten zur Ansiedlung in Palästina befähigen.
Die Existenzbasis der Familie, die Ober vogtländische Korbwarenfabrik, wurde ihr schon im Februar 1939 genommen: »arisiert«. Nach der Enteignung entspann sich ein widerlicher Schriftverkehr zwischen den Stadtverwaltungen Schöneck und Plauen. Das Amt in Schöneck ver langte von den Kollegen in Plauen, dass diese die Familie in eines ihrer Judenhäuser einweise, da es in Schöneck selbst solche nicht gebe und die Berger/Blitz doch zur Israelitischen Religionsgemeinde Plauen gehörten. Außerdem sei dem neuen Besitzer des »arisierten« Wohn- und Geschäftshauses ein Zusammenleben mit Juden nicht länger zuzumuten. Die Stadtverwaltung Plauen lehnte ab. Sie hätte Schwierigkeiten, alle Plauener Juden unterzubringen.
Aus einer erhalten gebliebenen Aktennotiz über die Requirierung des Radios der Familie lässt sich schließen, dass sie die Absicht hatte, auszuwandern. Doch vermutlich reichten die Mittel für die »Reichsfluchtsteuer« nicht. Als die Familie in ihrer Not Ende September 1939 nach Berlin (in die »Höhle des Löwen«) zog, war es zu spät. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Der Schönecker Bürgermeister aber triumphierte; er konnte die Stadt »judenfrei« melden.
Marianne Schächten, geborene Herzfeld, aus dem vogtländischen Treuen stammend und Überlebende des Holocaust, erzählte mir bei einem Besuch, dass die ganze Familie Berger/Blitz ermordet worden ist - bis auf Ulrik*. Ihr gelang noch gerade rechtzeitig die Fhicht nach Dänemark. Sie lebte einige Zeit im Jemen und zuletzt in Israel, wo sie 1997 im Kibbuz Teresin (Theresienstadt) verstarb.
Sechs Juden - in einer deutschen Kleinstadt. Für sie sollte es damals keine Rettung gegeben haben?!
Aus Schöneck gibt es noch anderes zu berichten: Im Frühjahr 1945 trieb die SS auf verschiedenen Straßen KZ-Häftlinge durch das Vogtland. In der Nähe von Schöneck gelang es Oskar Eysland, einem jungen polnischen Juden, sich im Seitengraben zu verstecken. Ein älteres Ehepaar aus der Stadt fand den fast Verhungerten, verbarg und versorgte ihn bis zum Kriegsende. Nach der Befreiung zurückgekehrt in seine Heimat schrieb er ihnen noch oft und nannte sie dankbar Mutter und Vater.
Aus dem Schöneck im wiedervereinigten Deutschland wäre aber auch noch etwas nachzutragen: Das Amtsblatt der Stadt, der »Schönecker Anzeiger«, veröffentlichte am 3. November 1999 das Foto eines alten Mannes, der sich in das Gästebuch der Stadt einschreibt. Es handelt sich um Günther Thaden, 1935 bis 1941 Bürgermeister in Schöneck. Dem Besuch des Gastes aus Bremen war im Amtsblatt ein ausführlicher, wohlwollender Bericht gewidmet. Kein Wort über dessen Tätigkeit zur NS-Zeit. Dafür erfährt man, dass seine erste Amtshandlung darin bestand, die Zigarrenindustrie in Schöneck aus der Krise zu holen und er ein »Meisterquar tett« (mit einem Gegenbauer, einem Maler und einem Schulmeister) gebildet hatte. Thadens Bemerkung, dass er 1941 »aus dienstlichen Gründen von Schöneck nach Krakau gehen musste«, blieb unkommentiert.
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