Zeitreise im Kopf

Leonid Zypkin auf Dostojewskis Spuren

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.
Auf den ersten Blick ein Reiseroman: Der Ich-Erzähler, ein namenloser jüdischer Mediziner, unverkennbar ein Alter Ego des Autors, sitzt Ende der 1970er Jahre im Zug von Moskau nach Leningrad, das sich urplötzlich in das Petersburg Dostojewskis und seiner literarischen Helden verwandelt. Auch Dostojewski reist - im April 1867, mit Anna Grigorjewna, seiner frisch angetrauten zweiten Frau, von Petersburg nach Westeuropa, wo sie vier Jahre verbringen. Aus dem Reisesujet wird aber kein Dostojewski-Roman. Der Verfasser der »Dämonen« und der »Brüder Karamasow« existiert nur im Kopf des Erzählers, und den interessiert nicht die Biografie des Schriftstellers, sondern dessen Bild von Russland und seinen Menschen, nicht zuletzt sein Verhältnis zu den Juden, mit denen, die Russen schon immer ihre Schwierigkeiten hatten. Aber auch Stalins Reich, das Jahr 1937, die Lager, die Leningrader Blockade und der Alltag der Stadt in der Breshnewzeit spiegeln sich im Kopf des Erzählers.
Also ein Russlandroman? Zypkins Buch bedient alle Erwartungen, ist, wenn man will, auch ein Eheroman, ein Roman über die russische Literatur von Puschkin bis Achmadulina, über Slawophile und Westler im 19. und über »Schwertträger« wie Solshenizyn und Sacharow im 20. Jahrhundert.
Im Zug liest der Erzähler das Tagebuch Anna Grigorjewnas, der jungen Stenographin, die Fjodor Dostojewski heiratet, nachdem er ihr den Roman »Der Spieler« diktiert hat. Annas Tagebuch beschreibt die Reise, die das junge Paar über Dresden nach Baden-Baden führt. Es gibt Einblick in die Innenwelt der Ehepartner, zwischen denen ein Altersunterschied von 25 Jahren besteht. Es zeigt »Fedja« vor den berühmten Gemälden der europäischen Galerien, seine Spielleidenschaft, die Krankheit, das Fieber der Sinnlichkeit und der Eifersucht, beschreibt kleinlichen Streit, offenbart Fremdenfeindlichkeit (alle Deutschen sind Spießer, Lakaien oder Spitzbuben). Es lässt die intimsten Seiten der Ehe erahnen, den Charakter des nächtlichen »Schwimmens« und »Fedjas« Streben nach unerreichbaren »Gipfeln«, zu denen auch das »dunkle Dreieck« in Annas Schoß gehört. Vom Tagebuch gelenkt, taucht der Erzähler, der den offiziellen Dostojewski ausgezeichnet kennt, tief in die Gedanken und Gefühle des Schriftstellers ein und ruft, wo er unsicher ist oder zweifelt, Gestalten aus dessen Romanen auf, damit sie ihm Rede und Antwort stehen.
Nimmt es da Wunder, dass Annas »Fedja«, vom Erzähler auf den Prüfstand gestellt, nicht der Schulbuch-Dostojewski ist? Eher ein Glücksritter, von der Katorga gezeichnet, der die Aristokraten Turgenjew und Gontscharow hasst, aber anpumpt, um endlich den großen Gewinn zu machen. Ein reizbarer, oft ungerechter Mensch. Nimmt es da Wunder, dass der Erzähler wissen will, warum so viele »Jidden« Dostojewskis Romane bevölkern und der »Stamm«, zu dem er und seine Freunde gehören, in den Aufsätzen des Schriftstellers über die »jüdische Frage« so schlecht wegkommt? Hat Dostojewski im eigenem Charakter etwas vom »Jidden« gespürt?
»Warum übte das Leben dieses Menschen, der mich und meinesgleichen verachtet hatte, eine so merkwürdige, verführerische Anziehungskraft auf mich aus?«, fragt sich Zypkin und gibt anhand einer ergreifenden Sterbeszene eine der möglichen Antworten, was die seltsame Symbiose von Antisemitismus und großen Menschheitsideen im Werk Dostojewskis betrifft. Zypkins Buch ist ein »intellektualer Roman«, ein Romantyp, den Thomas Mann 1924 in einem Essay mit dem Blick auf den »Zauberberg« beschrieb. Ein Buch, das gesellschaftliche Katastrophen und Umbrüche reflektiert, in dem Belletristisches hinter philosophischem und wissenschaftlichem Denken zurücktritt.
Leonid Zypkin (1926-1982), aus einer Ärztefamilie, arbeitete als Pathologe und Forscher an einem Moskauer Institut. Er schrieb für die Schublade, gehörte weder zum Untergrund noch zu Dissidentenkreisen. Seine Ausreiseanträge wurden abgelehnt. »Sommer in Baden-Baden« entstand zwischen 1977 und 1980. Ein Manuskript gelangte nach Amerika, wo es 1982 in der russischen Emigrantenzeitung »Nowaja gaseta« gedruckt wurde, der erste Teil sieben Tage vor dem Tod des Autors. Eine englische Version und die deutsche Übersetzung, die 1983 in München herauskam, fanden kaum Resonanz. Erst mit dem Vorwort von Susan Sontag, 2001 in der amerikanischen, 2003 in der Moskauer Ausgabe, wurde der Roman zum Ereignis (in Russland, wegen der brisanten Themen, auch zum Streitobjekt ideologisch divergierender Kreise). Die vortreffliche Übersetzung von Alfred Frank wird ihm auch in Deutschland zum Durchbruch verhelfen.
Mit »Ein Sommer in Baden-Baden« ist Leonid Zypkin ein großer Wurf gelungen. Die endlos langen und trotzdem eleganten Sätze, die sich manchmal über ganze Seiten ziehen, die wirbelnden Bewusstseinsströme und kühnen Assoziationssprünge, die uns mit den Gedanken des Erzählers, Anna Grigorjewnas, Dostojewskis und seiner Romangestalten konfrontieren, die Zeitschleifen, auf denen verschiedene Gegenwarten und Vergangenheiten während einer einzigen grammatikalischen Dauer aufeinander stoßen, machen die Lektüre zum ästhetischen Genuss.

Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden-Baden. Roman. A. d. Russ. v. Alfred Frank. Mit einem Vorwort von Susan Sontag. Berlin Verlag. 238 S., geb., 19,90 EUR.
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