Unglückliches Bosnien-Herzegowina
UN-Studie: Nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung will in den derzeitigen Grenzen des Staates leben
Erstmals seit 1991 wurde die Bevölkerung Bosniens und Herzegowinas in der ersten Oktoberhälfte gezählt. Die Ergebnisse sollen erst im Januar veröffentlicht werden, doch in der vergangenen Woche wurden einige vorläufige Daten bekannt. Sie bestätigen, was man bereits ahnte: Die Zahl der Einwohner des zerrissenen Staates ist seit 1991 durch Kriegsschrecken und Vertreibungen um 13 Prozent geschrumpft - von 4,4 auf 3,79 Millionen. Inwieweit sich die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert hat, ist noch unbekannt. Laut Zensus 1991 lebten in Bosnien 43,7 Prozent Bosniaken (Muslime), 31,4 Prozent Serben und 17,3 Prozent Kroaten.
Die Folgen des Bosnienkriegs von 1992 bis 1995 haben den Alltag in der einstigen Multikultirepublik indes nachhaltig zerrüttet. Ob muslimische Bosniaken, Serben oder Kroaten: Laut einer jetzt veröffentlichten Studie der Vereinten Nationen erklären drei Viertel der Befragten, lieber in einem von der eigenen Ethnie dominierten Umfeld zu leben.
Gerade 28,5 Prozent der Befragten wollen innerhalb der gegenwärtigen Grenzen ihres Staates leben. Über zwei Drittel der Serben und über die Hälfte der Kroaten sprechen sich dagegen für eigene Staaten aus. Selbst von den muslimischen Bosniaken, denen die größte Identifikation mit dem durch den Dayton-Friedensvertrag gezimmerten Staatskonstrukt nachgesagt wird, stimmt den derzeitigen Grenzen nur ein gutes Drittel zu. Zwar glauben zwei Drittel aller Befragten, dass es in den nächsten fünf Jahren zu keinem neuerlichen Waffengang in Bosnien kommen wird. Doch gewaltträchtige Zwischenfälle, Proteste oder ethnische Spannungen werden von einem Drittel nicht ausgeschlossen.
Immerhin: 18 Jahre nach Kriegsende ist die Bereitschaft zu einer kriegerischen Konfliktlösung auf ein Minimum gesunken. Für den Erhalt Bosnien-Herzegowinas würden nur 13,5 Prozent der Bosniaken, 12,6 Prozent der Kroaten und gar nur 1,5 Prozent der Serben in den Krieg ziehen. Größer wäre der Anteil derer, die den Zerfall des Staates bewusst tatenlos verfolgen würden: Ein gutes Viertel der Bosniaken, knapp die Hälfte der Kroaten und über zwei Drittel der Serben würde sich dabei mit der Beobachterrolle begnügen.
In der Einschätzung ihrer persönlichen Lebenslage weisen die Antworten der Angehörigen verschiedener Ethnien derweil nur minimale Unterschiede auf. Rund die Hälfte der Bevölkerung verspürt Lethargie und Verbitterung, knapp fünf Prozent bezeichnen sich als depressiv - als glücklich hingegen nur ein Prozent der Befragten. Knapp die Hälfte glaubt, dass sich ihre missliche Lage auch im nächsten Jahr nicht verbessern wird, ein Zehntel rechnet gar mit einer Verschlechterung.
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