Die Verachtung des Souveräns
Tom Strohschneider über die Blockade des Bundestags durch Union und SPD
Über die Arbeit im Bundestag, so heißt es in einer Tischvorlage für interne Verhaltensregeln, an denen sich Union und SPD für die Zeit ihrer Koalitionsverhandlungen orientieren sollen, werde während der Gespräche »stets Einvernehmen hergestellt«. Es hätte der Mühe gar nicht bedurft, sich eine solche Formulierung überhaupt auszudenken - denn der Bundestag arbeitet nicht. Weil Union und SPD das so wollen.
Ein paar mehr oder weniger folgenlose Sitzungen wird es geben zwischen Bundestagswahl und Jahresende, und mit der angekündigten Einsetzung eines Hauptausschusses könnten die Regierungspartner in spe auch ein bisschen so tun als ob. Unter dem Strich aber ist das Parlament für mindestens ein Quartal lahmgelegt. Ausschüsse, deren Bildung im Grundgesetz vorgesehen ist, kommen nicht zusammen; die Bearbeitung tausender Petitionen liegt brach und damit vorübergehend auch ein Recht, das eigentlich zu den zentralen und unveränderlichen der Verfassung gehört.
Ja, Regierungen müssen erst einmal gebildet werden - das dauert. Und ja, die linke Opposition hat die bestehende Mandatsmehrheit im Bundestag als Hebel der parteipolitischen Rhetorik entdeckt und setzt damit die SPD unter Druck - das mag ärgern. Doch es ist all dies kein Argument, keine auch nur annäherungsweise akzeptable Begründung für das schwarz-rote Agieren, in dem nichts anderes zum Ausdruck kommt als eine Verachtung des Souveräns.
Jedes parteipolitische Gerangel zwischen Union und SPD auf dem Weg zu einer Koalitionsvereinbarung verhält sich wie eine Petitesse dazu. Der großkoalitionäre Block reagiert mit Schulterzucken auf die Kritik der Opposition, sie brüskiert den Parlamentspräsidenten aus den eigenen Reihen, einen Mann also, der in der Nomenklatur der Verfassung noch vor der Kanzlerin kommt - und doch nur vergeblich auf einen arbeitenden Bundestag pocht.
Union und SPD demonstrieren auf diese Weise vorab, auf was sich der eigentliche Souverän in den kommenden vier Jahren einzustellen hat: auf eine Regierungsmehrheit, die zwar nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten repräsentiert, sich aber wie der postdemokratische Elefant im demokratischen Porzellanladen verhält. Was dabei kaputt geht, wird nicht so leicht zu kitten sein.
Das Parlament kontrolliert die Regierung. Eigentlich. In Wahrheit zeigen Union und SPD dem einzigen vom Volk gewählte Staatsorgan derzeit den ausgestreckten Mittelfinger. Die Parlamentsdemokratie mag ihre Schwächen haben; ohne ein arbeitendes Parlament ist sie keine.
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