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Skepsis und Zweifel sind oberste Bürgerpflicht

Rainer Lehmann ruft zum Ungehorsam gegen Verdummung, Willkür und Entrechtung auf

Dies ist ein Pamphlet im besten Sinne des Wortes: pointiert, polemisch, parteiisch. Der studierte Pädagoge und Philosoph Rainer Lehmann, Jg. 1952, klagt menschenunwürdige Zustände und devote Haltungen an. Mit unheiligem Zorn. Ist dieser dem Enkel eines von den Nazis verfolgten Kommunisten und einer ungläubigen galizischen Jüdin vererbt worden?

Wie auch immer, Lehmann ruft zum Ungehorsam auf. Denn Gehorsam hat nicht nur, aber vor allem in der deutschen Geschichte zu Gewalt und Grauen geführt. »Die Topographie des Gehorsams macht schaudern: Verdun, Kronstadt, Guernica, Workuta, Auschwitz, Stalingrad, My Lai«, listet der Autor auf. Und erinnert: Die viel beschworene »friedliche Revolution« 1989 war nur deshalb friedlich, weil diejenigen, die über die Waffen verfügten, von ihnen keinen Gebrauch machten. »Man hat es nicht ihren Konten gutgeschrieben, sondern denen, die mit Talglichtern um die Kirchen prozessierten.« Wie wahr. Wahr ebenso des Autors Feststellung, dass die Ostdeutschen gläubig und gehorsamst einer Gesellschaft mit begrenzter Hoffnung beitraten. Und aus Dank dafür beraubt und entrechtet wurden.

Lehmann weiß aber auch Erfreuliches zu berichten: Vom Syntagma-Platz in Athen bis zum Liberty-Park in New York, von den Zeltlagern in der Bankenmetropole Frankfurt am Main bis zum Rothschild-Boulevard in Tel Aviv demonstrieren die Betrogenen ihren Willen, sich nicht mehr purer Willkür unterzuordnen und entdecken wieder die Lust am kritischen Denken. Dieses ist Voraussetzung für die Überwindung aller Verhältnisse, in der der Mensch ein geknechtetes und verächtliches Wesen ist. Nicht menschenfreundliches Philosophieren, auch nicht die verlogenen Solidaritätserklärungen sozialdemokratischer Abgeordneter, so Lehmann, sondern die Enragés in den französischen Vorstädten und die Robin Hoods in Tottenham und Camden sowie die im Gezi-Park erwachten Bürger Istanbuls »schützen uns davor, von unseren eigenen Regierungen noch nachhaltiger gedemütigt und entmündigt zu werden«. Sie errichten die »Dämme gegen die Umverteilungsorgien und Enteignungsstrategien, die in Banker- und Lobbyistenhirnen geboren, um anschließend hinter den Türen von Ministerien und Kabinetten ›rechtsstaatlich‹ ins Werk gesetzt zu werden«.

Etliche starke und wahre Sätze sind hier zu lesen, etwa: »Skepsis, Zweifel und nötigenfalls Ungehorsam sind Bürgerpflicht.« Und: »Soziale Demokratie konstituiert sich nur durch die mündige Selbsttätigkeit aufgeklärter Bürger.« Gewiss, Lehmann ist nicht der erste, der zu Ungehorsam aufruft. Er verweist auf Erich Fromm, der bemerkte, dass die Menschheitsgeschichte selbst aus biblischer und mythologischer Sicht mit einem Akt des Ungehorsams begann: Adam und Eva naschten verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis. Prometheus stahl den Göttern das Feuer, um es den Menschen zu geben. - Ein Buch, das es in sich hat.

Rainer Lehmann:
Aufforderung zum Ungehorsam. Ein Pamphlet. VAS. 150 S., br., 14,80 €

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