Krank ohne Sport
Trainingssucht scheint weit verbreitet, konnte aber bisher noch nicht umfassend untersucht werden
In den 70er Jahren stießen Ärzte auf eine neue Art von Abhängigkeit. Zu diesem Zeitpunkt setzte die erste Fitnesswelle ein, die sich vorzugsweise im Lauftraining manifestierte. Mit der Entwicklung neuer Trainingsformen, insbesondere der Verbreitung der Fitnesszentren, stieg nicht nur die Zahl der Freizeitsportler, sondern auch die Anzahl der Trainingsabhängigen.
Gegenwärtig gibt es noch keine allgemein anerkannte Definition dieser Sucht, aber die wichtigsten Symptome sind denen von Alkohol- und Drogenabhängigen gleich. Muss der Sportler eine oder gar mehrere Trainingseinheiten verpassen, zeigen sich Irritation, Unzufriedenheit, psychische Labilität und Rastlosigkeit. Diese Stresssymptome belasten nicht nur die betroffene Person, sondern auch deren engere Umgebung und hier insbesondere die Familie und den Kollegenkreis. Die Gründe für diese Erscheinungen sind ebenfalls denen der Stoffabhängigen gleich. Wer Sport treibt, wird mit dem Erreichen der angestrebten Leistungen belohnt, und es stellt sich ein Wohl- oder Glücksgefühl ein. Der Körper und insbesondere das Gehirn reagieren ähnlich wie auf stoffliche Substanzen mit der Aussendung von Endorphin.
Ein Training über das gesunde Maß hinaus kann unterschiedliche Folgen haben: Muskelschmerzen oder -schäden, Schlaf- und Konzentrationsbeschwerden, Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit. In einigen Fällen ist Trainingsabhängigkeit mit Essenstörungen verbunden, bei der sich die Symptome und die Kausalität von Ursachen und Folgen überlagern. Hier ist oft unklar, ob trainiert wird, um einen Gewichtsverlust zu erreichen oder ob Diäten gehalten werden, um besser trainieren zu können.
Für Ärzte ist diese Form von Abhängigkeit in einer normalen Konsultation schwer erkennbar. Es ist aber ebenso schwierig, Probanden für eine Studie zu finden. Versuche, eine Untersuchungsreihe mit vermutlich Trainingsabhängigen in einer statistisch relevanten Anzahl zu starten, wurden zumindest in den USA und Dänemark unternommen. Doch es erwies sich als unmöglich, ausreichend Personen zu finden. Abgesehen davon, dass niemand gern Abhängigkeiten einräumt, wollten die angesprochenen Personen auch nicht akzeptieren, dass sie dem Training einfach hin und wieder fern bleiben sollten. Selbst das Angebot, gegen Bezahlung an einer Versuchsreihe teilzunehmen, war nicht attraktiv.
Geschätzt wird, dass etwa sechs Prozent der sportlich Aktiven von Trainingsabhängigkeit betroffen sind. In der Gefahrenzone sind jene, die zwischen acht und 16 Stunden wöchentlich trainieren und dem alle anderen Aktivitäten - im Extremfall auch die Arbeit - unterordnen. Unklar ist bisher, ob sich Abhängigkeit eher im Elite- als im Massensport entwickelt und ob bestimmte Sportarten besonders häufig auftreten. Lauf- und Fitnesscentertraining stehen unter größtem Verdacht, aber der endgültige Beweis fehlt noch. Die Behandlungsmethoden sind schwierig und müssen individuell angepasst werden. Wirksam werden sie jedoch erst, wenn der Abhängige die Situation erkannt hat und gewillt ist, sie zu ändern.
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