Kein Tarifabschluss von der Stange
Erste regionale Einigung nach monatelangen Verhandlungen und Warnstreiks im Einzelhandel
Im monatelangen Tarifstreit des bundesdeutschen Einzelhandels haben die Unterhändler der Arbeitgeber und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di am frühen Donnerstagmorgen in Korntal-Münchingen bei Stuttgart einen ersten regionalen Durchbruch erzielt. So sollen für die rund 220 000 Beschäftigten in Baden-Württemberg die Tarifeinkommen rückwirkend zum 1. Juli um drei Prozent und ab 1. April 2014 um weitere 2,1 Prozent steigen. Die Ausbildungsvergütungen sollen nach Lehrjahr gestuft zum 1. August 2014 auf 720, 800 und 920 Euro angehoben werden. Für Januar 2014 ist zudem eine tarifliche Einmalzahlung vorgesehen. Der Vertrag läuft bis zum 31. März 2015.
Wesentliches Signal der Vereinbarung ist die Zusage des Handelsverbands Baden-Württemberg, den bisherigen Manteltarifvertrag (MTV) rückwirkend zum 1. Mai 2013 für weitere zwei Jahre unverändert wieder in Kraft zu setzen. Anfang 2013 hatte der bundesweite Arbeitgeberverband HDE mit der Aufkündigung des MTV eine monatelange bundesweite Protestbewegung mit weit über 100 000 Streikenden ausgelöst. Ver.di registrierte seither 25 000 Neueintritte.
Aus Gewerkschaftssicht war die vom HDE propagierte »sprachliche Entstaubung« und »Modernisierung der Entgeltstruktur« ein »Generalangriff auf soziale Besitzstände« mit dem Ziel, Einkommen und Arbeitsbedingungen auf Dauer zu verschlechtern. Konkret ging es um die Neueinstufung bestimmter Tätigkeiten und die Streichung von Lohnzuschlägen für Nachtarbeit. Außerdem wollten große Handelskonzerne eine neue Nie-driglohngruppe mit etwa 8,50 Euro Stundenlohn für Auffüller in der Warenverräumung schaffen.
Mit dem Abschluss im Südwesten sind die gröbsten Angriffe auf den Flächentarifvertrag zumindest bis Frühjahr 2015 abgewehrt. Die Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben erhalten Bestandsschutz und Sicherheit. Allerdings ist bei näherer Betrachtung doch eine Änderung des Vertragswerks vorgesehen, mit der die vielfach ausgegliederten Auffüllkräfte wieder in den Tarifvertrag zurückgeholt werden können. So soll für die Regalauffüllung in Verkaufsräumen eine neue untere Lohngruppe mit einem Stundenlohn von 9,54 Euro zum 1. Januar 2014 bzw. 9,74 Euro zum 1. April 2014 eingeführt werden. Je nach Arbeitszeit sind für die Nachtstunden Zuschläge von 20 bzw. 50 Prozent vorgesehen. Ver.di hat hier Zugeständnisse gemacht und erhofft sich von diesem »tarifpolitischen Meilenstein« eine Rückführung von ausgegliederten Werkvertragsbeschäftigten in die Stammbelegschaften sowie ein »Bollwerk gegen zunehmende prekäre Beschäftigung«. Für Auffüllkräfte, die bei einem Werkvertragsnehmer bisher Stundenlöhne zwischen sechs und sieben Euro beziehen, ist die Regelung ein deutlicher Fortschritt. Ob dies anderswo neue Begehrlichkeiten zur Abgruppierung von Beschäftigten weckt, muss sich im Alltag zeigen.
»In der Kernbranche des privaten Dienstleistungsbereichs konnten wir den Flächentarifvertrag erhalten und die Arbeitsbedingungen für die ausgegliederten Beschäftigten deutlich verbessern«, erklärte ver.di-Verhandlungsführer Bernhard Franke am Donnerstag. Die Gewerkschaft fordert die Bundesregierung auf, die neuen Tarifverträge nun für allgemeinverbindlich zu erklären.
In Baden-Württemberg waren seit Frühjahr vor allem die Regionen um Stuttgart, Mannheim, Heidelberg und Freiburg Streikhochburgen. Noch vor Beginn der entscheidenden Gesprächsrunde am Mittwoch hatten über 400 Beschäftigte vor dem Tagungshotel in Korntal-Münchingen demonstriert. Die Tarifrunde Einzelhandel dürfte als eine der längsten und schwierigsten Streikbewegungen seit Jahrzehnten in die bundesdeutschen Gewerkschaftsgeschichte eingehen.
Die nach einer Nachtsitzung erzielte Vereinbarung steht noch unter dem Vorbehalt einer Zustimmung durch die zuständige baden-württembergische ver.di-Tarifkommission, die das Papier heute beraten soll. Ob angesichts der Regionalisierung der Tariflandschaft im Einzelhandel der Abschluss im Südwesten uneingeschränkt als »Pilot« für die anderen elf Tarifbezirke dient und die Handelskonzerne im angelaufenen Weihnachtsgeschäft auf Betriebsfrieden setzen, wird sich bald zeigen.
Am kommenden Dienstag wird in Nordrhein-Westfalen, dem mit gut 600 000 Beschäftigten größten Tarifbezirk, über das Ergebnis aus dem Südwesten gesprochen werden. Der regionale Arbeitgeberverband für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen geht derweil nicht davon aus, dass der Tarifabschluss in seinem Bezirk eins zu eins übernommen wird.
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