Fliegen im Orkan

Das Sturmtief Xaver tobt über Europa. Während Straßen und Bahnstrecken gesperrt werden, sind erstaunlich viele Linienflugzeuge noch unterwegs

  • Magnus Heier
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Angst fliegt mit: Wenn draußen ein Orkan tobt, dann wird auch in Linienflugzeugen nach der Landung wieder applaudiert - eine Reaktion, die man sonst nur bei Charterflügen in den Süden kennt. Aber nach schlingerndem Landeanflug oder gar mehreren Landeversuchen ist die Erleichterung auch bei routinierten Vielfliegern groß, schließlich sicher am Boden anzukommen. Ab 117 Stundenkilometern spricht man von einem Orkan - und Xaver brachte deutlich höhere Windgeschwindigkeiten. Trotzdem ist der Einfluss auch eines solchen Sturmtiefs auf den Luftverkehr erstaunlich gering. Zwar sind an den deutschen Passagierflughäfen mehr als 500 Flüge ausgefallen, vor allem an der Nordsee und in Niedersachsen, doch erstaunlich viele Maschinen flogen wie geplant. Und die anderen bleiben meist nicht am Boden, weil sie wegen des Sturms nicht hätten starten können. Sondern weil bei orkanartigen Winden der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Flugzeugen vergrößert wird.

Denn ein Flugzeug, das etwa mit 200 Stundenkilometern Rückenwind einfliegt, dann nach einer 180-Grad-Kurve auf die Landebahn einschwenkt und plötzlich 200 Stundenkilometer Gegenwind hat, ist für die Flugsicherung nur schwer zu kontrollieren. Deshalb der Sicherheitsabstand, sagt Axel Raab, Pressesprecher der Deutschen Flugsicherung und selbst ehemaliger Lotse. Aber grundsätzlich seien solche Winde kein Problem. Vorausgesetzt, sie kommen nicht von der Seite oder von hinten: »Bei 30 Knoten Seitenwind, das heißt 55 Stundenkilometern, besteht grundsätzlich Startverbot«, sagt Raab. Warum dann nicht bei Xaver? Grund ist die bei uns recht konstante Richtung des Windes. »Er kommt meist, zu etwa 70 Prozent, aus westlichen Richtungen, selten von Osten und fast nie aus Norden oder Süden. Die Start- und Landebahnen haben daher fast alle eine Ost-West-Ausrichtung«, so Raab. »Lediglich die Startbahn West in Frankfurt geht von Nord nach Süd und darf, wie der Name sagt, nur zum Starten und dabei auch nur von Norden nach Süden benutzt werden.« Auf den anderen Bahnen können die Flieger bei vorherrschendem Westwind gegen den Wind von Osten nach Westen landen. Dreht der Wind und kommt von Osten, werden die Bahnen in Gegenrichtung angeflogen. Die Geschwindigkeit über Grund ist das Entscheidende: Rückenwind verkürzt funktionell die Landebahn, da das Flugzeug mit entsprechend hoher Geschwindigkeit über Grund einschwebt. Gegenwind ist umgekehrt kein Problem, da die Bahn mit sehr niedriger Geschwindigkeit über Grund angeflogen wird - allerdings vorausgesetzt, der Wind ist nicht stärker als die Eigengeschwindigkeit des Flugzeugs.

Wie problematisch der Wind tatsächlich ist, lässt sich mit einem einfachen Parallelogramm ausrechnen: Kommt er in einem Winkel von 45 Grad von links vorne, wirkt der gleiche Teil der Kraft von vorne wie von links. Und die seitliche Kraft ist entscheidend, ihr sind die Flugzeuge ausgeliefert. Schiffe lassen sich in den Wind drehen - Landebahnen nicht. Jedes Flugzeug hat eine individuelle maximal zugelassene Seitenwindkomponente. Entscheidend ist auch die Bauform: Tiefdecker, bei denen die Tragflächen unter dem Rumpf hängen, vertragen unter Umständen weniger Seitenwind als Schulterflügler, bei denen die Tragflächen an der Oberseite des Rumpfs, gleichsam an dessen Schulter, aufgehängt sind. Und schließlich ist die Position der Triebswerksgondel entscheidend: Hängen sie wie bei Airbus und den meisten Boeings unten an der Tragfläche eines Tiefdeckers, dann hat das Flugzeug weniger Neigungstoleranz, als wenn sie hinten am Rumpf befestigt sind. Die Triebwerksgondel beziehungsweise die Tragfläche darf auch bei starkem Seitenwind niemals den Boden berühren.

Oft kommt die unangenehme Überraschung für die Fluggäste nach einem ruhigen Flug kurz vor der Landung. Denn auch wenn in größeren Höhen ein konstanter Wind herrscht, wird er doch am Boden verwirbelt: Hügel und Häuser sorgen dafür, dass auch ein gleichmäßiger Wind turbulent werden kann. Auch der Übergang zwischen Stadt und Wald sorgt für Turbulenzen, weil sich Asphalt und Beton schneller aufheizen als Waldboden oder gar Wasser. Und die Luft dann zwar über der Stadt aufsteigt, über dem Wald aber fällt: Der Anflug auf Berlin geht erst über die Stadt und dann im Endteil über ein Waldgebiet - mit ganz unterschiedlichen Auftrieben. Deswegen sind Anflüge in Berlin kurz vor der Landung oft unruhig.

Der Start ist weniger problematisch, auch bei starkem Wind: Das Flugzeug beschleunigt auf 250 bis 270 Stundenkilometer und hebt steil in den Himmel ab. Die Ausrichtung ist egal. Bei der Landung muss der Pilot dagegen mit präziser Ausrichtung auf der Landebahn aufsetzen. Wer schon einmal vor einer solchen Bahn gestanden hat, weiß, dass die Flugzeuge bei Wind nicht in gerader Linie anfliegen, sondern schräg gegen den Wind. Und erst im letzten Moment auf die Landebahn einschwenken. Dabei setzen die Flugzeuge zunächst mit dem Fahrwerk der Seite auf, die dem Wind zugewandt ist. Das klingt hochgradig instabil, aber gerade knapp über dem Boden ist der Auftrieb der Tragfläche, die dem Boden näher ist, sehr groß - das Flugzeug gleitet wie auf einem Luftkissen und stabilisiert sich selbst. Wenn die Landung trotzdem nicht klappt, kann der Pilot durchstarten - eine Erfahrung, die sich bei Sturm häuft. Die Probleme beim Landen waren denn auch ein Grund für die zeitweilige Schließung in Hamburg und die Streichung vieler Flüge in Hannover.

Auf jeden Fall hat der Pilot die alleinige Verantwortung - nicht die Flugsicherung, nicht der Flughafen, nicht die Fluglinie. Die Entscheidung, ob Wind und Wetter noch zum Fliegen taugen, fällt der Flugzeugführer - und nur er allein. Jeder Pilot entscheidet individuell nach seiner persönlichen Einschätzung der Situation - verbindliche Grenzwerte gibt es nicht, heißt es.

Aber wie frei ist der Pilot in seiner Entscheidung? Immerhin kostet ein ausgefallener Flug viel Geld. Und zieht eine Kaskade weiterer Ausfälle, Kosten und Ärger nach sich. Die Airlines betonen, keinerlei Druck auf ihre Piloten auszuüben. Andere behaupten das Gegenteil. »Der Druck ist da, aber er ist nicht beweisbar«, sagt ein Mitarbeiter, der nicht namentlich genannt werden will. Es ist zu hoffen, dass jeder Pilot, der sich entscheidet zu fliegen, das auch wirklich mit Überzeugung tut.

Für Hubschrauberpiloten ist die Entscheidung einfacher. »Für unsere Rettungshelikopter vom Typ ›Eurocopter 135‹ ist bei einer Windstärke von über 50 Knoten, das heißt 92 Stundenkilometer, definitiv Schluss«, sagt Jürgen Grieving, Pressesprecher des ADAC und verantwortlich für die Luftrettung. Auch bei gefrierendem Regen oder Eisregen können die Piloten nicht raus - weil das Eis die Oberflächenform der Rotorblätter verändert und den Auftrieb der Hubschrauber verringert.

Ausgerechnet die schnellen Militärflugzeuge bleiben schon bei Windgeschwindigkeiten ab 40 Knoten am Boden: Das Problem ist nicht ihre Flugfähigkeit. Es ist der immer mögliche Notfall. »Wenn Sie sich mit dem Schleudersitz aus dem Flugzeug katapultieren und sich dann, am Fallschirm hängend, die Windgeschwindigkeit zur Fallgeschwindigkeit addiert, dann ist der Aufschlag aufs Wasser wie der auf eine Betonwand«, sagt Tornadopilot Bockmeyer. Und deshalb können Orkane wie Xaver Kampfflugzeuge leichter aufhalten als Passagiermaschinen.

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