Unschuldiges Gegengift
Kleines Denkbild zur Trockenlegung von Hass
Wer die eigenartigen Kinder in den grünen Jäckchen wahrnimmt, sieht den Frieden. Sie werden uns retten, es wird sich lohnen. Dabei sehen sie nicht danach aus. Zu unscheinbar vor allem. Der Hass, den sie ersticken werden, hat längst Ausmaße erreicht, gegen die ein paar Kinder kaum aufkommen können, denkt man - und irrt sich.
Große Augen, kleine Körper, engelblondes Haar - schutzbedürftig, wie sie nun mal wirken, wird man sich bei ihrem Anblick in der Kaufhaus-Spielwarenabteilung oder auf dem Parkplatz vor dem Lebensmitteldiscounter zunächst eher Sorgen um sie machen: Wie sie schniefen, wie sie husten. Schwer schlucken sie, und auf den Beinen sind sie nicht recht sicher.
Eben dies ist das Geschickte. Eltern, aber auch andere Kinder werden auf sie zugehen, sich um sie kümmern und sich bei ihnen anstecken. Darum allein geht es. Wir brauchen mehr sozialen Frieden in unseren reichen Städten, unserer komplizierten Zivilisation. Gerade die Vorweihnachtszeit weckt ja leider den unbeherrschtesten Hass: Wieso bleiben diese ganzen Idioten mit ihren prallen Einkaufstüten dauernd direkt vor den Türen oder an der Schwelle zur Rolltreppe stehen? Was, außer Apfelsaft, wird die Marketing-Abteilung demnächst noch in Christmas-Sondereditionen von Jack Daniel’s und Jim Beam schütten? Bionade? Wer soll all die Hobbits ertragen, die über Plakatwände, Panorama-Flatscreens, Kinoleinwände und Smartphone-Sichtfenster kaspern? Wann gewöhnen sich die Verkehrsbetriebe endlich daran, dass es im Winter schneit und windet? Weshalb sind die Kolumnen bei Spiegel Online seit etwa drei Wochen noch wirrer und weltfremder als sonst, liegt’s wirklich nur am Glühwein?
Alle kennen das Gefühl: Man möchte dreinschlagen, sie abwürgen, alles ausmerzen. Eng wird’s in der Luftröhre und ums Herz, man ist plötzlich in sich eingesperrt, zugleich gelangweilt und ungeduldig. Schuld sind die anderen, ob im Familienkreis, der im Näherzueinanderrücken ein Gefängnis wird, ob auf Betriebsfesten: Man hasst sie, die Dummköpfe, die einem das ganze Jahr über täglich die Zeit stehlen, persönlich, am Telefon oder per Mail, aus reiner Hilflosigkeit, weil sie weder führen, noch folgen, noch aus dem Weg gehen können. Ärger noch als diese Ungeschickten hasst man die Beweglichen, die Intriganten und Wühler, die wissen, wie man sich auf Kosten anderer winzige Vorteile verschafft, die freilich sofort wieder abschmelzen und deshalb augenblicklich die nächste Schweinerei zur Status-Stabilisierung verlangen. Am allermeisten aber hasst man die dritte, die teuflischste Kategorie: Menschen, die weder dumm sind noch egoistisch berechnend, sondern einfach aus zielloser, aber im Detail bis zum Wahnsinn ausgeklügelter Routine dem jeweiligen Zusammenhang, ob Laden, ob Verwandtschaft, ihre ganze runzlige Mickerseele verschrieben haben und daher ohne eigenen Gewinn ständig dem Rest der Menschheit das Leben zur Hölle machen mit ihren Tipps, ihrer Anteilnahme, ihren Anweisungen, Einmischungen.
Zu allen drei Gruppen widerlicher Sozialschweine gehört man natürlich fallweise auch selbst immer wieder; dafür hat die Evolution den Selbsthass erfunden, auch kein Spaß.
Das alles kostet, schädigt, kränkt den Stolz der Menschengattung.
Grüne Jacken? Ein Sortiermerkmal. Große Augen? Eine stumme Bitte um Beistand. Die eigenartigen Kinder werden sich in den Arm nehmen lassen. Sie wollen kuscheln, sie werden niesen, sie wünschen Küsschen. Der Friede wird eine Tröpfcheninfektion sein.
Die Wut aber, der Zorn: Die müssen weg. Sie stören den Betriebsablauf, das weiß man, seit die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion mit Anbruch des bürgerlichen Zeitalters im großen Maßstab verwissenschaftlicht wurden - vorher konnte man von einem »Betriebsablauf« im Grunde gar nicht reden, es wurde halt gesät, geerntet, geboren, gelebt, gestorben, getötet. Mit der Manufaktur jedoch, erst recht dem Fabrikwesen, kam das Sozialingenieurswesen in die Welt, die gesellschaftliche Steuerungstechnik, auch wenn sie nicht gleich so hieß. Fürs Erste mussten, wie bei jeder umfassenden wissenschaftlichen Unternehmung, einzelne begabte Köpfe ins Blaue raten und experimentieren - zum Beispiel jener Doktor Freud aus Wien, der sich mit Unfrieden, Zwietracht und zwischenmenschlicher Erschöpfung unterm bereits sehr sachgemäßen Gesichtspunkt neurotischer Angst und sogenannter »moderner Nervosität« befasste, womit er der weiteren Forschung ein paar unverächtliche Fingerzeige gab. Von Neurosen redet man allerdings, anders als jener, heute nicht mehr, der Ausdruck gilt als altertümlich. Dass aber mit der binnenseelischen und kommunikativen Reiz- und sonstigen Informationsverarbeitung etwas im Argen liegt, wo Hass und Gewalt in der sonst so gemütlichen spätbürgerlichen Zivilisation aufflammen, bleibt richtig.
Im präventiven und therapeutischen Umgang mit dieser Art Sorge haben während der letzten zwanzig Jahre glücklicherweise zwei junge Wissenschaftszweige verblüffende Nützlichkeit bewiesen: die Informatik und die Neurobiologie. In der gegenwärtigen internationalen Ordnung haben sich an ihnen wiederum zwei Wege der Befriedung des Gemeinwesens orientiert: der amerikanische und der europäisch-deutsche.
Wie die ganze Welt seit den peinlichen Darlegungen des braven Idealisten Edward Snowden weiß, setzen die Amerikaner beim sozialpolitischen Hassmanagement, etwa der Eindämmung von islamistischem Terrorismus, aber auch der freundschaftlichen Wachsamkeit hinsichtlich übereilter globalstrategischer und lokalmarkthegemonialer Ambitionen ihrer Bündnispartner, voll und ganz auf den flächendeckenden Einsatz der Informationstechnologie. Dies ist indes ein eher grobes Verfahren, das sich auf pure Rechenleistung, auf brute force computing, verlässt und wenig Spielraum für feinere, molekulare, subtile Eingriffe in die jeweiligen Kausalketten lässt. Anders die Deutschen. Sie regiert eine Physikerin, das hat Vorteile. Die Kanzlerin kennt sich im Mikrokosmos so gut aus wie im Makrokosmos, macht also keine Kategorienfehler und schätzt das Raffinierte. Etwas Lebendiges, das denkt und fühlt, weiß sie, rastert man nicht plump in Dateiennetzen klein. Da muss Neurochemie her.
Die Kinder werden Obdach finden. Man wird ihnen Hühnersuppe kochen. Man wird sich anstecken und es nicht bereuen. Die Tröpfcheninfektion der Anpassung ans Nette wird sich im Land, auf dem Kontinent, bald auf der ganzen Welt ausbreiten als ein einziges, großes Behagen.
Hass ist eine Form der Empathieverweigerung, eine Denkhemmung, eine Lernbehinderung. Derlei zählt man heute zu den Synaptopathien. Synapsen im Nervensystem schalten dabei falsch, ihre Erregung und Dämpfung sind aus dem Tritt. Deutsche Forschung, drittmittelgestützt an Universitäten und privat in unseren traditionsreichen Pharmaunternehmen, hat seit einigen Jahren schlüssig nachweisen können, dass so gut wie alle Synaptopathien mit Ungleichgewichten im genetisch programmierten Haushalt der sogenannten SHANK-Proteine zusammenhängen. Das sind Eiweißstoffe, die Neurotransmitterrezeptoren, Ionenkanäle und andere Membranproteine mit bestimmten Signalpfaden im Nervensystem verbinden.
Versuche an Mäusen, Affen und Menschen bei BAYER haben ergeben, dass gewisse Drogen, die gegen Reizbarkeit und Aggression bei sämtlichen Probanden von durchschlagender Wirkung waren, sich von genetisch entsprechend veränderten Bakterien mühelos synthetisieren lassen, die in der Natur als Erreger von Erkrankungen der Atemwege und Schleimhäute vorkommen.
»Wir können gegen den Schnupfen nicht viel machen«, erklärt Frau Merkel lächelnd, »aber wir können unsere besten Wünsche für ein schöneres Zusammenleben auf ihm Huckepack reiten lassen, bis die Leute sich besser benehmen, als sie je zu träumen gewagt hätten. Unsere Industrie macht uns keine Schande, wir sind ganz vorn.«
Das Kind blinzelt vorsichtig. Es schlingt die Arme um sich selbst und klopft sich ab. Ihm ist kalt.
Es mag uns.
Dietmar Dath stellte uns diesen Text exklusiv zur Verfügung. Er gehört zu einem Zyklus erzählter Rätselbilder, an dem der Schriftsteller gerade arbeitet.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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