Du hast drei Sekunden!

»Neue Liebe« - Ein »analoger Aufriss digitaler Romantik« des Labels internil

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

Der kleine Tisch mit zwei Stühlen am Fenster sei zum Ausruhen, sagt der Performer. Hierher zieht sich Arne Vogelgesang, nur scheinbar pausierend, zurück. Denn er trifft dort Frauen. Eine Art Speed Dating. Die Menschen hätten verlernt, aufeinander zuzugehen und sich bei Sympathie gegenseitig anzusprechen, meint er. In der Großstadt könne man leben, ohne zu reden.

Der Bedarf an Kommunikation, an Sehnsucht nach Nähe wiederum spiegelt sich in Vogelgesangs Produktion »Neue Liebe« im Theaterdiscounter wider. Sein »analoger Aufriss digitaler Romantik« mit Musik von Christoph Wirth verweist auf Möglichkeiten, über das Internet Kontakt zu suchen.

Nach Recherchen seines künstlerischen Labels internil findet fast ein Drittel der Europäer einen neuen Partner mittlerweile elektronisch. Millionen von Deutschen geben ihr Profil an rund 2500 Partnerbörsen. Dazu kommen verschiedenartige digitale Beratungsangebote, wo Ratsuchenden erklärt wird, wie's funktioniert oder Leute in »Pick-Up-Foren« Erfahrungen austauschen. Wie hat sich die Menschheit ohne all das bis heute bloß fortpflanzen können?

Das Raumkonzept von Clementine Pohl ist durchdacht. Besucher von »Neue Liebe« können - betreut von Marina Miller - flanieren. Etwas unsicher zunächst, sammeln sie sich auf den Sitzflächen, wenn Vogelgesang zu Vorträgen als Guide anhebt, über Liebeserfahrungen erzählt und über Regeln, die eine Beziehung braucht. Später lockert sich die Atmosphäre. Man geht mal hier, mal dort gucken. Manche unterhalten sich, andere scheinen, für sich bleibend, in Nachdenken zu verfallen.

Wie auch immer diese Produktion vom Einzelnen aufgenommen wird - sie berührt, dringt emotional ins Innere vor, ohne peinlich zu werden. Dass diese Art neuer Kennenlernkultur ohne Leib und Seele Fallstricke hat, thematisiert internil nicht. Das Wissen bringen Besucher mit. Vor Beginn unterhalten sich junge Männer darüber. Das begehrte unbekannte Wesen hätte erbeten, dass er sein Leben völlig ändert, bevor man sich treffen könne, erzählt einer. Was ist das denn für ein Spielchen? Seit wann beginnt eine Beziehung mit »müssen«?

Ein Lichttisch, wie ihn Fotografen früher nutzten, bietet im Theaterraum einen Überblick von Partneragenturen unterschiedlichster Art. Auf sieben Bildschirmen verschiedener Größe kann man sich informieren, auf zwei Laptops spielend Kontakt mit einem elektronischen Partnervermittler aufnehmen. Eine Gestalt mit Bildschirmgesichtsmaske hockt auf einem Block. Man blickt in das künstliche Antlitz und ist erstaunt, plötzlich menschliche Bewegung wahrzunehmen. Diese Figur - der Performer ist nur anfangs so zu sehen - ist beeindruckend. Erstaunlich komplex teilt sie stumm alles mit, was es über die Kontaktaufnahme zweier Lebewesen über die Technik zu sagen gibt.

Auf jeden Fall müssen im Internet viele Ratsuchende unterwegs sein. Geschniegelte Weibchenversteher geben über Youtube Unterricht, wie man »in den Zustand kommt, Frauen anzusprechen«. Vor einem Bildschirm sitzend, kann man über Kopfhörer ihrem Vortrag lauschen. Es bringe nichts, sich wortlos nahe einer Dame aufzuhalten, sagt einer. »Mann« müsse sofort reagieren oder die Sache vergessen. Das Ultimatum: Du hast drei Sekunden!

Beim Hinausgehen zwinkert eine Frau ihrem Partner zu und sagt: »Nun wissen wir alles über die Liebe.« Und in ihrem verschmitzten Blick liegt dieses Wie-grau-ist-doch-alle-Theorie.

Heute, 20 Uhr, Theaterdiscounter, Klosterstr. 44, Mitte, Tel.: (030) 28 09 30 62

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